von Hermann-Peter Eberlein
Er war Jurist, Archäologe und Philosoph. Er war wohl der bedeutendste russische Musik- und Kunstkritiker seiner Zeit. Er unterstützte die Protestbewegung in der Malerei und fungierte als Mentor für die Avantgarde der Komponisten. Kurz: Wladimir Wassiljewitsch Stassow war der Inbegriff des Intellektuellen im alten, zaristischen St. Petersburg. Vor einigen Wochen hat sich sein Todestag zum hundertsten Mal gejährt.
Geboren wird Wladimir am 14. Januar (nach altem Stil: 2. Januar) 1824 in St. Petersburg als Sohn des Architekten Wassili Petrowitsch Stassow, der gemeinsam mit Andrej Worochin, Thomas de Thomon und Carlo Rossi den Petersburger Imperialstil geschaffen und etwa für den Wiederaufbau des Winterpalais im Jahre 1838 Verantwortung getragen hat. Ab seinem dreizehnten Jahr besucht Wladimir die Rechtsschule seiner Heimatstadt, in der er auch eine intensive musikalische Ausbildung erhält. Im Jahr 1843 tritt er als Referent für Vermessungswesen in den Staatsdienst ein, wechselt zweimal die Ministerien und avanciert 1849 zum Kollegienassessor, 1851 zum Hofrat. In diese Zeit fallen seine ersten Arbeiten zur Literatur und Musik, die in Petersburger Zeitungen veröffentlicht werden. Im selben Jahr 1851 nimmt Stassow die Stellung eines Privatsekretärs beim Fürsten Demidow an und bereist drei Jahre lang Europa, wobei er die längste Zeit in Florenz verbringt. Wieder zurückgekehrt, widmet er sich in Petersburg erneut seinen künstlerischen und musikalischen Interessen, verkehrt im Kreis um Michail Glinka und freundet sich mit dem Komponisten Alexander Dargomyschski an. Hauptberuflich arbeitet er in der Öffentlichen Bibliothek (deren Kunstabteilung er bald leitet) und in Archiven, wird zum Staatsrat ernannt und zum Geheimen Rat. Daneben übersetzt er Robert Schumanns Musikalische Haus- und Lebensregeln ins Russische, sichert den Nachlaß Glinkas, fungiert als Herausgeber der Bekanntmachungen der Archäologischen Gesellschaft, rezensiert, schreibt Aufsätze, Programmschriften und Libretti, streitet, lobt, polemisiert. Er erhält Goldmedaillen diverser Akademien und gelehrter Gesellschaften, wird Mitglied der Akademie der Künste, der Gesellschaften für Altrussische Kunst und für Architektur und Ehrenmitglied der Kiewer Gesellschaft für Literatur und Kunst und der Russischen Akademie der Wissenschaften. Er unternimmt noch einmal eine ausgedehnte Europareise, befreundet sich mit den wichtigsten Exponenten des russischen Geistes von Ilja Repin bis zu Lew Tolstoj und Maxim Gorki, wird angefeindet, befehdet und karikiert. Am 23. (10.) Oktober 1906 stirbt er in St. Petersburg.
Stassows geistesgeschichtliche Stellung beruht darauf, daß er in der Malerei wie in der Musik die jeweilige Avantgarde nach Kräften gefördert hat. So war er inbrünstiger Unterstützer der Peredwischniki, jener auf Initiative von Iwan Kramskoi gegründeten Gruppe von realistischen Künstlern, die die absolutistische Zarenherrschaft zutiefst verurteilten, das städtische und das Leben des Volkes darstellten und während fünfzig Jahren immerhin achtundvierzig große Wanderausstellungen durchführen konnten. Für die Gruppe der Fünf um den Komponisten Mili Balakirew prägte Stassow 1867 den Ausdruck Mächtiges Häuflein, der bald zum Ehrennamen und zur feststehenden Bezeichnung wurde. Stassow war der ideologische und publizistische Beistand dieses Kreises (Balakirew, Borodin, Cui, Mussorgski und Rimski-Korsakow), der sich die Förderung der nationalrussischen Musik – gegen die Westler mit ihrem prominentesten Vertreter Tschaikowski – auf die Fahnen geschrieben hatte. Sein Briefwechsel mit den führenden Vertretern des russischen Kunstlebens stellt einen unschätzbaren Fundus für die kulturgeschichtliche Forschung dar. Die biographischen Skizzen zu Mussorgski und Borodin sowie Auszüge aus dem Briefwechsel mit Balakirew sind auch auf deutsch zugänglich (Meine Freunde Alexander Borodin und Modest Mussorgski. Die Biographien, herausgegeben von Ernst Kuhn. Verlag Ernst Kuhn Berlin 1993). Eine umfassende deutsche Stassow-Ausgabe und eine breite Rezeption in unserem Land stehen freilich noch aus.
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