von Gerd Kaiser
Über die Lebensgeschichten durchweg einfacher Leute in historischen Konfliktsituationen des 20. Jahrhunderts berichtet ein nicht alltäglicher Sammelband. Bei den sechzehn Beiträgen handelt es sich nicht um die wohl zu allen Zeiten und unter allen Regierungsformen unvermeidlichen Schüleraufsätze, sondern um die ersten historischen Forschungsarbeiten russischer, deutscher, georgischer und tatarischer Schüler. Sie suchten und fanden aus eigenem Antrieb und im Rahmen »forschenden Lernens« die Lebensspuren von Menschen, die in ihrer unmittelbaren Umgebung lebten oder noch leben: Geschichtsforschung vor der eigenen Haustür aus der Sicht junger Leute.
Erfreulicherweise haben sie nichts von einem einleitend behaupteten »75-jährigen deutsch-russischen Krieg (1914-1989)« verinnerlicht und auch nichts mit der Dutzendware unsäglicher Fernsehsendungen hierzulande zu tun. Nicht zuletzt das macht den Reiz dieser historischen Miniaturen aus.
Entstanden sind sie im Rahmen von EUSTORY, einem alljährlich geführten Wettbewerb junger Europäer zur Erforschung ihrer Geschichte, der von der Hamburger Körber-Stiftung koordiniert wird. Die von der Edition der Stiftung zugänglich gemachten Arbeiten – in einer Reihe von Fällen hätte man den Texten allerdings eine sachkundigere Übersetzung ins Deutsche gewünscht – stammen aus den Jahren 1997 bis 2005. Die meisten wurden mit Förder- oder anderen Preisen ausgezeichnet, eine Ermutigung, die einige der Schüler bewog, sich nach ihrem Abitur für ein Studium der Geschichte zu entscheiden.
Den impulsgebenden Geschichtswettbewerb in Rußland richtet seit 1999 Memorial aus, koordiniert wird er von Irina Scherbakowa, Historikerin und Germanistin in Moskau, die auch als Herausgeberin des Sammelbandes zeichnete. Bei den Schülerarbeiten handelt es sich um eigenständige und zum Teil auch um eigenwillige Forschungsarbeiten. Allerdings sind die Texte eher der Anfang als bereits das »Ergebnis ernsthafter und umfassender Forschungsarbeit«. Schade, daß die Jugendlichen nicht fragten, warum deutsche Soldaten in Rußland hinter Stacheldraht kamen und warum (rußland-)deutsche Bauernfamilien »heim ins Reich« geholt wurden oder warum »das Klacken der Holzpantoffeln« von Zwangsarbeitern bis heute in Netzschkau nachhallt. Diese Anregung schmälert nicht das Verdienst der jungen Leute, sich forschend zu bemühen, sondern soll zur Suche nach erweiterten oder neuen Forschungsansätzen und zur Methodenverfeinerung animieren.
Zwei willkürlich getrennte Gruppen der Beiträge, »Zerbrochene Leben« und »Wo ist Heimat«, behandeln im Grunde genommen das gleiche Thema: leidensvolle Lebensschicksale deutscher, vorwiegend bäuerlicher Familien im Zarenreich und unter der Sowjetmacht. Sie bestätigen Napoleons Erfahrung: »Die Politik ist das Schicksal.« Aufgegriffen wurden in den meisten Beiträgen des Bandes Lebensgeschichten, die jahrzehntelang von den Betroffenen verschwiegen und von der offiziellen Geschichtsschreibung tabuisiert worden waren.
Das trifft auch auf die Forschungsarbeiten in den Kapiteln »Das Antlitz des Krieges« und »An allen Fronten« zu. Beispielsweise dann, wenn ein Sowjetdeutscher, eingezogen zur Wehrmacht, zwar aus dieser desertierte, aber mit dem Makel des Dienstes in der Wehrmacht in der Sowjetunion lebte, oder was deutsche Familien erlebten, wenn sie »heim ins Reich« geholt, und nach Kriegsende wieder heim geholt, besser gesagt heimgesucht wurden.
Alexandra Trichitschewa aus Montschegorsk erforschte das Schicksal der jungen Jüdin Basja Schwarz, die den faschistischen Völkermord überlebte, weil ihr zahlreiche Helfer uneigennützig zur Seite standen. Über das »Leben mit Feinden«, deutschen Kriegsgefangenen in Jelabuga, wo unter anderem Reste der in Stalingrad aufgeriebenen und ausgebluteten 6. Armee hinter Stacheldraht zusammengeführt wurden, berichtete Alija Safina aus Tatarstan – unter Bezug auf die Erinnerungen von Otto Rühle, damals dort Kriegsgefangener. Ebenso eindrucksvoll-bewegend und sachlich-konzentriert berichtet Semjon Bogatyrjow über deutsche Kriegsgefangene in Lagern des Gebiets Wjatka, von denen allein die Namen und ihre Gräber blieben.
Hier, wie auch in den anderen Darstellungen, standen vor allem Zeitzeugen Rede und Antwort. Es waren, hier wie andernorts, die letzten Zeitzeugen für jene Jahrzehnte. Steffi Kaltz, Antje Kreutzmann und andere aus Genthin untersuchten »Wie ein Staatsfeind entsteht«. Es ging dabei um den Widerstand einiger Oberschüler ihrer Heimatstadt in den Jahren 1945 bis 1950 gegen die Bildungspolitik in der SBZ beziehungsweise der DDR. Er wurde mit martialischen Strafen – bis zu 25 Jahre Arbeitslager –, und zwar nach dem Strafgesetzbuch der RSFSR, beendet.
Die Schülerinnen Ksenja Samuchowskaja und Tatjana Gubanowa, veröffentlichten unter der Dachzeile »Zeitenwende«, ihre Erfahrungen im Umgang mit Geschichte vor der eigenen Haustür. Die Moskauerin Ksenja schrieb über die deutschen Facharbeiter, die 1930 aus eigenem Antrieb in die UdSSR aufgebrochen waren, um mit ihren beruflichen Erfahrungen eine neue Gesellschaft zu errichten. Tatjana Gubanowa, deren Familie auf der Insel Gorodomlija im Seeliger See ansässig war, forschte über die unerwartete Nachbarschaft mit deutschen Raketenforschern – und deren Familien –, die 1946 dorthin verfrachtet worden waren, um an der Entwicklung und Erprobung von Raketenwaffen mitzuwirken.
Da der Autor dieser Zeilen zu beiden Themen publiziert hat (Rußlandfahrer, 2000, und Raketenspuren, 1995 ff.) sei darauf verwiesen, daß die 1986 geborene Ksenja Samuchowskaja, die mit ihrer Arbeit einen dritten Platz im Geschichtswettbewerb 2002/2003 errang, nicht nur den ursprünglichen Forschungsansatz in der Arbeit Rußlandfahrer aufgegriffen, sondern diesen sogar weitergeführt, und dabei neue Forschungsergebnisse vorgelegt hat.
Irina Scherbakowa (Hrsg.): Unruhige Zeiten. Lebensgeschichten aus Russland und Deutschland, Edition Körber-Stiftung Hamburg 2006, 322 Seiten, 14 Euro
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