Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 25. Dezember 2006, Heft 26

Berlin, ganz privat

von Martin Nicklaus

Liebhaber der Etymologie sowie Leser von Erwin Chargaff wissen, daß sich privat vom lateinischen privare ableitet und rauben bedeutet. Neulich eröffnete Sahra Wagenknecht einen Text über Moderne Raubzüge beim Verkauf der Berliner Sparkasse auf ähnliche Art, meinte allerdings, damit sei zum Thema Privatisierung bereits alles gesagt, schrieb dann aber doch noch fünf Seiten. Das war, bevor das jüngste Urteil zur Entschuldung Berlins bekannt wurde, in dem die Verfassungsrichter regelrecht den Verkauf von Landeseigentum fordern.
Dagegen empörten sich sogar Kommentatoren, die eine Kommunistische Plattform eher meiden. Beispielweise meinte der Chefökonom der Financial Times, es wäre weise gewesen, »sich mit Vorschlägen zur Haushaltsführung zurückzuhalten, solange selbst Ökonomieexperten nicht wirklich sicher sind, was da am besten funktioniert«. Zum erfolgreichen Sparen gehöre eine Strategie, die Wachstum schafft, »kein Klimbimsparen bei Opern oder Zoos«. Allerdings: Würde man bei den Opernhäusern die Eingänge zumauern und die Gebäude mit Efeu beranken lassen, sparte das jährlich einhundert Millionen Euro, da die Häuser sich kaum zu einem Viertel selber tragen. Man fragt sich, wie Die Wühlmäuse so ganz ohne Subventionen überleben.
Eine andere Frage wird mit der Forderung nach einer Strategie aufgeworfen. Bisher besteht sie seit dem unseligen Wirken einer Fugmann-Heesing einzig im Sparen und Privatisieren, was das glatte Gegenteil von Schuldenabbau bedeutet. Kontinuierlich gestiegene Schulden beweisen das. Die acht Milliarden von 1991 haben sich inzwischen quadriert. Spart die Öffentliche Hand in Zeiten der Rezension, verschärft sie diese. Werden Landesbedienstete entlassen oder deren Einkommen gekürzt, geben sie weniger Geld aus, was die Einnahmen von Handwerkern, Einzelhandel sowie Kultur- und Gastronomieeinrichtungen schmälert, worauf die ihrerseits Leute entlassen, die dann wiederum als Konsumenten entfallen et cetera.
Inzwischen läßt sich mühelos die soziale Verwahrlosung der Stadt jenseits der Opernhäusern als Folge einer Sparpolitik in den Zeiten der Deindustrialisierung bemerken. Im Tagesspiegel geht unterdessen die Rede von regelrechten Arbeitslosenvierteln. Da wuchsen Ghettos, die immer mehr rechtsfreien Räumen gleichen und in denen Polizisten Gefahr laufen, vom Mob überrollt zu werden. Dafür bekommen sie als kleines, etwa neun Millionen Euro teures Trostpflaster: blaue Uniformen.
Eine andere Form der Verwahrlosung findet an den Schulen statt. Die Rütli-Schule kennt heute jeder, aber daß wöchentlich zehntausende Unterrichtsstunden ausfallen, wird kaum thematisiert. Für genug Lehrer fehlt das Geld, weil jeden Tag das Lebensgehalt dreier Lehrer zur Schuldentilgung nach irgendwo fließt.
Für Berater hingegen reicht das Geld immer. Allein zwischen 2001 und 2004 verschlangen sie 35 Millionen Euro. Und selbstverständlich steigt, zur besseren Verteilung von Pfründen, in der neuen Legislaturperiode die Zahl der Staatssekretäre von sechzehn auf achtzehn. Für sie verschleudert man halt ein paar Wohnungen.
Zum besseren Verständnis der Unsinnigkeit des Karlsruher Urteils schaue man bei Albrecht Müller in Machtwahn nach: »Wenn der Staat ein öffentliches Unternehmen verkauft, dann vermindert sich das Vermögen parallel zu den Schulden. Ob unter dem Strich etwas übrig bleibt, hängt wesentlich vom erzielten Kaufpreis ab«. Welche Auswirkungen das Urteil des Verfassungsgerichts auf den Kaufpreis des Berliner Landeseigentums hat, kann sich jeder an drei Fingern abzählen. Die Heuschrecken freuen sich auf frische Beute.
Haben denn die Richter wenigstens umfassende Informationen zu den bisherigen Privatisierungen in der Stadt sowie deren Auswirkungen eingeholt? Wohl kaum. Denn da wären ihnen unweigerlich die Erkenntnisse des Donnerstagskreises der Vereinigten Linken in der SPD aus dem Jahre 2002 in die Hände gefallen. Deren Zusammenfassung lautet: »Die Bilanz der Berliner Privatisierung ist eine Katastrophe.« »Neue zukunftssichere Arbeitsplätze« wurden versprochen, mindestens sollten die verbleibenden gesichert sein. Nichts davon ist erreicht worden. Nicht die öffentlichen, sondern die privaten Finanzen der beteiligten ›Investoren‹ haben nachhaltige Konsolidierung erfahren.«
Ähnlich verheerend urteilt die Berliner MieterGemeinschaft, die zudem auf steigende Kosten bei schlechterem Service hinweist. Woher der Drang zum Verkauf öffentlicher Güter stammt, erklärt Müller: »Der Schlüssel zum Verständnis liegt im Privatisierungsvorgang selbst. Daran verdienen einflußreiche Eliten: Rechtsanwälte, internationale Beratungsunternehmen, Wirtschaftsprüfer, Berater, die ehemals Politiker waren« – oder auch noch sind. Inzwischen nimmt die Privatisierung geradezu skurrile Züge an: Da wurde die BEWAG privatisiert und gehört nun einem schwedischen Staatskonzern.
Was der Berliner Schuldenberg übrigens en passant widerlegt, ist eine Theorie ganz Ausgeschlafener, die besagte, die DDR sei schlicht pleite gewesen und habe sich deshalb der Bundesrepublik anschließen müssen. Was auch immer mit der DDR war, soviel Schulden wie Berlin hatte sie nie. Anderseits könnte der Senat die dahinterstehende Idee einer Länderfusion aufgreifen. Da Brandenburgs Kurfürst jedoch bereits abgewunken hat, sollten, vielleicht unter dem Arbeitstitel Preußen Gespräche mit Polen aufgenommen werden.