Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 13. November 2006 , Heft 23

Rechtswerdung

von Martin Nicklaus

Der Herbst hält Einzug im Schweriner Landtag. Erste Sitze werden braun, ohne je grün gewesen zu sein.
Epizentrum des Welkens war der Ort Lübtheen, wo NPD-Leute in den Masken von Biedermännern allem Volk in die Ohren flüsterten: »Ich bin der nette Mann von nebenan.« Diesen Text kannten sie von den Böhsen Onkelz aus deren Phase als stolze Skinheads. Mit einer Parole wie: »Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg« wäre die Bräunung auch nur unzureichend erklärbar. Beides kommt in Mecklenburg-Vorpommern in kaum meßbaren Spurenelementen vor und dürfte breiten Teilen der Einwohner von Angesicht her unbekannt sein.
Politische Spitzenkräfte, froh über jede Sau, die durchs Dorf gejagt wird mit  Ausnahme ihrer selbst, dürfen sich eine Zeitlang ganz betroffen und aufgeregt geben, je mehr sie die Ursachen und eigene Verantwortlichkeit ausblenden können. Aber für die Forderung nach einem NPD-Verbot reicht es immer.
Vergessen wird dabei, daß die drei Karlsruher Richter, denen unklar war, ob der Verfassungsschutz die Partei observiert oder organisiert, weiterhin im Amt sind. Wozu braucht man überhaupt den Verfassungsschutz, um aus dem NPD-Programm Rassismus und damit die Grundgesetzwidrigkeit herauszulesen? Es steht doch alles drin. Dafür fielen inzwischen andere bedeutende Gerichtsurteile: »Ruhm und Ehre der Waffen-SS« darf öffentlich proklamiert werden, der Vertrieb von antifaschistischen Zeichen, die Bezug auf Nazisymbole nehmen, steht fortan unter Strafe. Wer allerdings CDs von Bands vertreibt, die Nazitum, Gewalt und Holocoaust verherrlichen, bleibt vom Staatsanwalt unbehelligt.
Besonders tiefschürfende Analytiker meinen, die im Osten seien eben latente Nazis. Die Veranstalter von Rostock-Lichtenhagen und ihre Sympathisanten hätten halt nur eine Weile gebraucht, den Weg zur Wahlurne zu finden. Jene Analytiker übersehen geflissentlich: Die regionale Führungsebene der Deutschisten kommt aus dem Westen. Da könnte das Wort vom Antifaschistischen Schutzwall im nachhinein plötzlich doch noch seine Berechtigung erfahren …
Brecht machte sich seinen inzwischen abgedroschenen Reim darauf: »Der Schoß aus dem das kroch, ist fruchtbar noch.« Als, um im Bild zu bleiben, Geburtshelfer dient die Verelendung großer Teile der Bevölkerung. Fundierte historische Erfahrungen liegen uns Deutschen aus einem Verelendungsexperiment vom Beginn der dreißiger Jahre vor. Demnach nimmt mit der Steigerung persönlichen Leids die Tendenz zur Wahl radikaler Parteien zu. Viele Menschen erleben heute die Armutsbeschaffungsmaßnahme Hartz IV wie eine schwere Wirtschaftskrise. Dazu paßt der neue Rekord fehlender Lehrstellen.
Auf die desolate Situation im Land an der Ostsee hatte der DGB im April hingewiesen. Wundert sich da ernstlich jemand, wenn die NPD gerade von jungen Leuten gewählt wird? Wie die eingesammelt werden, zeigte der Film Beruf Neonazi. Sie bekommen von rhetorisch begabten Einpeitschern Selbstbewußtsein, Lebenssinn und ein klares Feinbild eingebleut. Man sehe sich im Kino an, wie Klinsmann seine Mannschaft auf das Spiel gegen Argentinien einschwor.
Auch keinen allzu großen aufklärerischen Beitrag leisten Journalisten, die aus Angst vor Anbiederungsvorwürfen den Nationalisten dummdreist kommen. Genau daraus weben diese ihr Outlaw-Image. Ein vorbereiteter Reporter dagegen könnte fragen, was das Wort: »Vergangenheitsbewältigug« in dem als pdf-Datei von der NPD-Internetseite abrufbaren Parteiprogramm bedeutet. Einen schnöden Rechtschreibfehler werden die Wahrer deutschen Brauchtums doch wohl kaum ins »Weltnetz« stellen.
Ein Großteil der Wähler, die die NPD eher emotional als rational wahrnehmen, bleibt davon allerdings unbeeindruckt, glauben die doch vom Parteiprogramm: »Es besteht darin, den Demokraten die Knochen zu brechen. Und zwar je eher, desto besser.« Mussolini hat das einmal von seinem Programm gesagt.
Doch das nun gerade vom verschlafensten Bundesland eine nationale Erweckungsbewegung ausgehen sollte, steht kaum zu befürchten. Vielmehr sollten uns die intellektuellen, wenn auch wenig intelligenten Eliten erschrecken, die den Acker für die braune Saat bereiten. Robert O. Praxton schreibt rückblickend in seiner Anatomie des Faschismus im Bezug auf Deutschland: »Es waren nicht die faschistischen Parteien, die den Staat umstürzten … Die konservativen Eliten wählten die faschistische Option.«
Und heute? Da rühmt Arnulf Baring Hitlers Elan und fordert die »Eindeutschung« von Ausländern, schreiben Jörg Friedrich per Brandschrift und Günther Grass im Krebsgang die Deutschen in die Opferrolle. Wogegen der Chefredakteur des kicker sie im Fußballweltmeisterschaftsheft aufforderte, zu Chauvinisten zu mutieren, ersinnt Bernhard Bueb ein Lob auf die Disziplin, fordert Eva Hermann die Rückkehr der Hausfrau, beschwören Redner im Politischen Feuilleton des Deutschlandradios das Feindbild Islam oder macht sich eine mitteljunge Schnepfe anderntags lustig über einen Mann, der gegen Neonazis kämpft. Von der neuen Lust zum Angriffskrieg einmal ganz abgesehen. Das Ganze überzieht eine dicke Soße mit viel Knopp, Leitkulturdebatte, Bürgerüberwachung, Bundeswehreinsatz im Innern, weltweit.
Auf Trippelschritten bewegt sich die Gesellschaft nach rechts, bis uns vielleicht folgende Überraschung ins Haus steht: Die bei der NPD eingesetzten Groschenjungs des Verfassungsschutzes entdecken im Parteiprogramm die Passagen: Recht auf Arbeit, Grund und Boden sind Eigentum des deutschen Volks, die Führung der Volkswirtschaft ist Aufgabe des Staates. Angeekelt legen sie ihr Amt nieder und machen damit den Weg frei für ein Parteiverbot: Wegen linksextremistischer Unzucht.
Na, so richtig lustig wäre das aber auch nicht.