Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 13. November 2006 , Heft 23

Blindekuh

von Ove Lieh

Damit wir uns von Anfang an richtig mißverstehen, es geht unter dieser Überschrift nicht um die Kanzlerin, die mittlerweile sogar dann und wann bezichtigt wird, eine Wiedergängerin Schröders zu sein; so amüsant mir auch die Parallelität ihres Flottenbesuchs und der Vorstellung des Buches von Jens-Fietje Dwars Die alte Kuh und das Meer erschien.
Nein, wir haben unsere studierende Tochter an ihrem Praktikumsort Basel besucht und dabei das nachträgliche Geschenk unserer Kinder zum Ehejubiläum mit ihr gemeinsam genutzt, ein Abendessen. Unser Sohn spielte derweil Fußball in Thüringen. So also kamen wir zur Blinden Kuh, die sich als besonderes Restaurant oder besser, als dunkler Erlebnisraum erwies. Wer mehr darüber wissen möchte, besuche die Internetseite des Projektes: www.blindekuh.ch.
Zunächst wird man von der Ahnung beschlichen, daß man nun im Dunkeln essen würde, und doch keine Ahnung habe, was kommen würde. Daß wir alle Gegenstände ablegten, die im Dunkeln verlorengehen könnten, und uns von allen Leuchtquellen trennten, sogar von der Uhr mit dem Leuchtziffernblatt, war nur das Vorspiel zum Rollentausch, der folgte. Wir wurden nämlich von einer blinden Kellnerin durch einen dunklen Gang ins Restaurant geführt. Die Hände auf die Schultern des Vorausgehenden gelegt, folgten wir ihr und glitten in den Status der Orientierungsbeschränkten, den wir sonst eher ihr zugewiesen hätten. Aber, nicht allein daß wir sehen können, macht uns ihr in der meisten üblichen Welt überlegen, sondern, daß es Licht gibt, das uns das Sehen möglich macht. Fällt es weg, weiß nur noch die, die das Licht vielleicht nie zur Orientierung hatte, wo es langgeht. Sehen können erfordert also nicht nur (relativ) gesunde Organe, sondern auch eine ausreichend helle Umgebung. Ein Zusammenhang, der vielleicht auch für andere Sinne und für das Denken gilt. Ein funktionierendes Gehirn haben ja viele, aber das heißt noch lange nicht, daß sie es zum Denken benutzen. Denn da ist viel Dunkelheit, und (geistiges) Licht anknipsen ist und gilt als mühevoll.
Wir sind also auf eine junge Frau angewiesen, Nadja mit Namen, den man rufen muß, wenn man Kontakt haben möchte, nicht, weil sie nicht sehen kann, sondern weil kein Licht da ist. Zusammen mit der völligen Dunkelheit erzeugte diese Gewißheit eine Beklemmung, von der man nicht wissen konnte, wie weit man ihr gewachsen war. Keine Angst, ich versuche nicht, Erfahrungen zu beschreiben, die jeder sowieso selbst machen muß, nur so viel sei gesagt: Ja, ich habe Beschaffenheit des Essens und seine Lage auf dem Teller mit den Fingern kontrolliert, ungefähr bei jedem zweiten Versuch nichts auf Gabel oder Löffel gehabt, beim Dessert intensiv per Hand geprüft, daß mir ja nichts auf dem Tellerrand (oder daneben, man soll ja über ihn hinaussehen, oder, wie in diesem Fall, hinausfühlen!) entgeht, und ich habe fast die ganze Zeit die Augen weit aufgerissen, obwohl nicht die Spur einer Chance bestand, etwas zu sehen. Schließlich kamen wir heraus, satt, froh, wieder im Licht zu sein, das Dunkel anders sehend, etwas klüger hoffentlich, jedenfalls tief beeindruckt und zum Sehen angeregt. Wer das mag, muß wohl nicht in die Schweiz fahren, sondern kann sich in Deutschland umtun, wo es solche und ähnliche Projekte gibt: zum Beispiel in Leipzig die Ausstellung Dialog im Dunkeln (verlängert bis Ende 2006), in Hamburg unter dem gleichen Namen ein ganzes Paket von Möglichkeiten (siehe: www.dialog-im-dunkeln.de). In Berlin gibt es so etwas bestimmt auch. Man kann ja fürs erste in das Regierungsviertel gehen, dort tappen die Herrschaften gegenwärtig auch ziemlich im Dunkeln.