Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 16. Oktober 2006, Heft 21

Unorthodoxes Denken

von Jochen Mattern

In einem Brief vom Juli 1956 berichtet Hannah Arendt (14. Oktober 1906 bis 4. Dezember 1975), bekannt geworden durch ihre zuvor erschienene Untersuchung Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, dem langjährigen Freund Kurt Blumenfeld von einer Begebenheit, die sie mit einigem Stolz erfüllt. Unter ihren Studenten in Berkeley, schreibt sie, kursiere die Ansicht: »Die Rosa ist wiedergekommen.« Und das passiere ihr, wie sie hinzufügt, obwohl sie selbst den Namen Rosa Luxemburgs nie erwähnt habe. Den Vergleich mit Rosa Luxemburg empfinde sie als ein »großes Kompliment«, teilt sie Blumenfeld mit.
An Hannah Arendts Bekenntnis zur Vorkämpferin der Arbeiterbewegung fällt der ungewöhnliche Zeitpunkt auf. 1956 ist ein Jahr, in dem sich der Kalte Krieg auf einem Höhepunkt befindet. Im Westen gilt der Antikommunismus als Staatsdoktrin, im Osten steht Rosa Luxemburgs Werk noch immer unter dem Verdikt des Luxemburgismus. Im Februar des Jahres hält Nikita Chruschtschow seine berühmte Geheimrede über die stalinistischen Verbrechen. In Polen kommt es daraufhin zu Unruhen und im Oktober dann zum Aufstand der Ungarn gegen die sowjetische Besatzungsmacht, der gewaltsam niedergeschlagen wird.
Zwei Jahre später, Anfang Juli 1958, berichtet Hannah Arendt ihrem Mann, Heinrich Blücher, wiederum brieflich von einer ähnlichen Begebenheit. Diesmal befindet sie sich auf einer Vortragsreise in Europa, die sie auch in die Bundesrepublik führt. »Der Mann, der mich einführte für meinen Vortrag, verglich (mich) mit … Rosa Luxemburg und Ricarda Huch«, schreibt Arendt. »Ich erwiderte, ohne auf die Huch einzugehen, daß es eine große Ehre sei, mit Rosa Luxemburg in einem Atemzug genannt zu werden. Darauf das junge Gemüse im Saal: spontaner Beifall! Nun sag mir bitte mal, woher wissen die das überhaupt. Nicht ein Buch von ihr ist im Buchhandel zu haben.« Heinrich Blücher antwortet seiner Frau per Brief nur wenige Tage später. Er bekundet zunächst seine Freude darüber, daß nun endlich Hannah Arendts Betrachtungen zur Ungarischen Revolution auch in der Bundesrepublik herauskommen, und setzt dann fort: »Wenn dort die Jungen wieder etwas von der Rosa Luxemburg ahnen, dann wird ihnen dieser erste Versuch, das wirkliche praktische Mittel der politischen Kontrolle durch freie Menschen aufzuzeigen an der Angst, die alle veralteten Mächte haben, gut tun.«
Worauf Blücher sich hier bezieht, das sind die Räte. Mit den Räten, die in den Revolutionen der Neuzeit stets aufs Neue entstehen, befaßt sich Hannah Arendt in dem von Blücher erwähnten Buch über die Ungarische Revolution und den totalitären Imperialismus. Anfangs will Arendt das Buch mit einer Widmung an Rosa Luxemburg versehen, was ihr der Verlag jedoch ausredet. Für Hannah Arendt bestätigten nämlich die Vorgänge in Ungarn, daß es »Rosa Luxemburgs spontane Revolution« gibt, »diesen plötzlichen Aufstand eines ganzen Volkes für die Freiheit und nichts sonst«. Die sich allerorten spontan bildenden Räte sind Hannah Arendts wichtigster Beleg dafür. In ihnen erkennt sie eine neue Staatsform. Im Unterschied zu den Parteien als »Repräsentativorganen«, in denen das Prinzip politischer Stellvertretung herrscht, stellen die Räte »Aktionsorgane« dar, in denen jedermann von seiner politischen Freiheit Gebrauch machen könne, also in einem positiven Sinne frei sei. Deswegen könne man bei den Räten »wirklich vom ›potestas in populo‹ sprechen, wo also die Macht von unten und nicht von oben kommt«. Für das »Rätesystem, das sich selbst von den Graswurzeln aufbaut«, aber »niemals ausprobiert wurde«, hegt Hannah Arendt nach eigener Aussage eine »romantische Sympathie«.
Ein solches Bekenntnis in der Hochzeit des Kalten Krieges zeugt von einigem Mut und vor allem von geistiger Unabhängigkeit. Um das, was gerade politisch opportun ist, schert sich Hannah Arendt wenig, und zwar ihr ganzes Leben lang. Sie praktiziert das, was sie selbst einmal in ihrer Lessing-Preis-Rede als Selbstdenken bezeichnet. Gemeint ist ein ganz und gar freies Denken, »das sich weder der Geschichte noch des logischen Zwanges als Krücken bedient«. Für diese Art Denken findet Hannah Arendt das plastische Bild vom »Denken ohne Geländer«. In Rosa Luxemburg glaubt sie eine ebenso unorthodoxe Denkerin wie sie selbst zu entdecken. Sie bezweifelt gar, »ob sie überhaupt Marxistin war«. Rosa Luxemburg sei es – wie ihr selbst – vornehmlich um das Problem politischer Freiheit gegangen. Die Fackel politischer Freiheit in finsterer Zeit hoch gehalten zu haben, zählt zu den unbestreitbaren Verdiensten Hannah Arendts, egal ob ihr Urteil über Rosa Luxemburg politisch korrekt ausfällt oder nicht.