von Hermann-Peter Eberlein
Nicht jeder hat ihn gelesen, Joseph Ratzingers Regensburger Vortrag über Glaube, Vernunft und Universität – aber jeder hat eine Meinung dazu. Ob er den Islam beleidigt habe, dieser Professor-Papst, ob er das islamfeindliche Zitat Kaiser Manuels II. verwenden durfte oder nicht, und wenn ja, ob er dann nicht mindestens auch die Kreuzzüge hätte erwähnen müssen. Ob er sich hinter dem Zitat verstecke oder sich durch den Hinweis auf die zweite Koransure, die Zwang in Glaubenssachen verbietet, davon distanziere. Ob er naiv in eine rhetorische Falle getappt sei. Ob ein Papst noch akademisch reden könne. Und so weiter.
Der Meinungsstreit läßt untergehen, was an Ratzingers Vorlesung wirklich wichtig ist. Das Manuel-Zitat bildet nämlich für das eigentliche Thema nur den Aufhänger. Es geht um die Vernunft und ihr Verhältnis zum christlichen Glauben. Dazu liefert Benedikt ein Konzept: ein altes und in seiner Geschlossenheit durchaus imponierendes – aber zugleich eines, das sich an der Wirklichkeit bricht und damit zum Scheitern verurteilt ist.
»Nicht vernunftgemäß zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider« – so Ratzinger. Denn: Gott selbst sei Vernunft, zwischen ihm und uns bestehe eine Analogie, die eine Synthese von Glauben und Wissen überhaupt erst ermöglicht. Historisch vollzogen habe sich diese Synthese in der Verschmelzung von jüdischer und griechischer Tradition, wie sie in der Spätantike begonnen wurde und wie sie im Hochmittelalter bei Thomas von Aquin zur klassischen Vollendung gefunden hat. »Dieses … innere Zugehen aufeinander, das sich zwischen biblischem Glauben und griechischem philosophischem Fragen vollzogen hat, ist ein … Vorgang, der uns auch heute in die Pflicht nimmt. Wenn man diese Begegnung sieht, ist es nicht verwunderlich, daß das Christentum trotz seines Ursprungs und wichtiger Entfaltungen im Orient schließlich seine geschichtlich entscheidende Prägung in Europa gefunden hat.« Dieses christliche, sprich: jüdisch-griechische Europa freilich sei seit Beginn der Neuzeit durch geistige Strömungen gefährdet, die allesamt eines gemeinsam haben: Sie versuchten das Christentum zu enthellenisieren. Dazu gehöre die Reformation mit ihrem Rekurs allein auf die Bibel ebenso wie Kants Verankerung des Glaubens »ausschließlich in der praktischen Vernunft«. Dazu gehöre die liberale Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts mit ihrem Vorstoß, »das Christentum wieder mit der modernen Vernunft in Einklang zu bringen, eben indem man es von scheinbar philosophischen und theologischen Elementen wie etwa den Glauben an die Gottheit Christi und die Dreieinheit Gottes« befreit. Dazu gehöre der Versuch, das Christentum außereuropäischen Völkern ohne seine griechischen Anteile zu inkulturieren.
Für Ratzinger sind all dies Irrwege. Die vom Glauben gelöste Vernunft der europäischen Moderne sei defizitär. Gerade »von den tief religiösen Kulturen der Welt wird … dieser Ausschluß des Göttlichen aus der Universalität der Vernunft als Verstoß gegen ihre innersten Überzeugungen angesehen.« Denn eine »Vernunft, die dem Göttlichen gegenüber taub ist …, ist unfähig zum Dialog der Kulturen.« Darum braucht es eine »Ausweitung unseres Vernunftbegriffs« über das Technisch-Rationale hinaus und ein neues Zueinanderfinden von Glauben und Vernunft.
In einer Richtung hat Ratzinger recht: dem Protestantismus gegenüber. Dessen Versuch einer Reinigung durch Reformation, durch Rückführung auf die Ursprünge hinter die Geschichte zurück hat statt dessen neue geschichtliche Formationen geschaffen und sich insofern als Illusion erwiesen. Doch die Neigung, das Christentum ausschließlich dem Judentum zuzuordnen, wird dem historischen Befund nicht gerecht. Dagegen wirkt Ratzingers synkretistisches und vernünftiges Christentum ungemein gesprächsfähig. In der Tat: Läge die Lösung aller Menschheitskonflikte in dieser Synthese von gemeinsamem Glauben und vernünftigem Handeln – wer wollte sich dem entziehen?
Liegt sie aber leider nicht. Die christliche Synthese hat andere Wege immer ausgeschlossen. Es ist verräterisch, daß Ratzinger nur von einem »kritisch gereinigten griechischen Erbe« zu reden vermag, das wesentlich zum christlichen Glauben gehöre. Denn neben dem christlich vereinnahmten Neuplatonismus und der Stoa standen in der Spätantike die Lehre Epikurs und die Skepsis, die vom Christentum erbittert bekämpft wurden. In der europäischen Neuzeit gibt es erst recht weder den einen Glauben noch die eine Philosophie mehr. Spätestens seit Nietzsche ist der Rekurs auf Metaphysik nicht mehr ungebrochen möglich. Positivistische, utilitaristische, materialistische Konzepte, Strömungen der Phänomenologie und der Existenzphilosophie, die analytische Philosophie angelsächsischer Provenienz lassen sich weder untereinander noch gar in toto mit einem Glaubenskonzept verbinden. Insofern ist Ratzingers Absicht, nicht hinter die Aufklärung zurückzugehen oder die Einsichten der Moderne zu verabschieden, nicht durchführbar.
Es gab nie die eine Vernunft, und es wird sie nie geben. Die, von der Ratzinger redet, ist eine päpstliche Vernunft. Notgedrungen steht sie anderen Vernunftansprüchen gegenüber und bereitet, wenn sie sich diesen gegenüber wertend zu Wort meldet, ungewollt dem Kampf der Kulturen den Weg. Denn die anderen werden sie nicht anerkennen können.
Herr Professor Ratzinger hat in Regensburg getan, was er immer getan hat. Er hat dem Papst eine Steilvorlage geliefert. Und sich dabei nun selbst ein Bein gestellt.
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