von Frank Hanisch
Das menschliche Genom wurde am 26. Juni 2000 im Weißen Haus feierlich für entschlüsselt erklärt. Drei Monate später lernte ich Andreas kennen. Er ist ein hochaufgeschossener, etwas linkisch wirkender 17jähriger, der später eine Lehre zum Bankkaufmann aufnehmen möchte. In seiner Freizeit schwimmt er ausgiebig und fährt Skateboard. Er hat nur ein Problem: Er schafft kaum einen Klimmzug, kann die Arme zunehmend weniger ausstrecken, kann nicht mehr vollständig den Fuß anheben, so daß Bergwanderungen Schwierigkeiten machen. Er möchte aber so sein wie alle anderen auch. Und die Eltern sind beunruhigt.
Mehr als einmal mußte die diagnostische Klinikmaschinerie mit Untersuchungen, Blutentnahmen, Muskelproben, genetischen Tests anfahren, bis der zugrunde liegende Defekt gefunden war: Ein Gen, erst 1999 entdeckt, war durch eine Mutation gestört. Es ist bei dieser Erkrankung möglich, mit dreißig Jahren im Rollstuhl zu sitzen oder mit nur geringen Beeinträchtigungen das Rentenalter zu erreichen. Man kann mit dreißig Jahren einen plötzlichen Herztod erleiden oder mit siebzig Jahren einen Herzinfarkt durch Arteriosklerose bekommen. Lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen kann man heutzutage mit der Implantation eines Herzschrittmachers vorbeugen.
Die vierzigjährige Mutter von Andreas hat dieselbe Mutation, ist aber kerngesund. Einmal im Jahr werden Mutter und Sohn angeschrieben. Dann wird ihnen eine vorbeugende Untersuchung beim Herzspezialisten empfohlen.
Mißachtung der Freiheit des Individuums? Akademisches Ausnutzen einer seltenen Erkrankung? Wird gar ein Gesunder zu einem noch nicht Kranken geprägt?
Früher mußte man sich ausschließlich auf die ärztliche Beobachtungsgabe verlassen. Nur schwere Fälle mit deutlichen Symptomen wurden erkannt und zugeordnet. Wegen der Gefahr von plötzlich auftretenden, nicht selten tödlich verlaufenden Herzrhythmusstörungen galt die Erkrankung als sehr gefährlich.
Heute ist es komplizierter: Der genetische Defekt wird nicht selten auch bei beschwerdefreien Angehörigen nachgewiesen. Noch komplizierter: Häufig läßt sich keine sichere Beziehung zwischen der genetischen Störung und dem Schweregrad der Erkrankung erkennen. Also läßt sich auch der Krankheitsverlauf im Einzelfall nicht vorhersagen!
Was bringt ein Gentest also? Der Nutzen eines genetischen Tests liegt neben der Sicherung einer Diagnose darin, die Vererbungswahrscheinlichkeit abzuschätzen und die Eltern, die einen Kinderwunsch haben zu beraten, schwerwiegende Erkrankungen auszuschließen und zu erkennen, ob es sich um eine Erkrankung handelt, bei der andere Organe – Herz, Leber et cetera – betroffen sein könnten.
Gendiagnostik ist derzeit bei monogenen Erkrankungen nur sinnvoll, bei denen sich eine Kausalitätskette von dem einen mutierten Gen über das eine gestörte Protein zu einer Erkrankung mit bestimmten Symptomen spannen läßt. Diese Erkrankungen sind und bleiben Raritäten! Geld verdienen läßt sich jedenfalls mit diesen Erkrankungen nicht. Über mehr zu spekulieren, ist derzeit unseriös.
Wozu also das Ganze, wenn es zwar Erkenntnisse, aber weder perfekte Voraussagen noch Heilung verspricht? Ist es ein Glasperlenspiel, ein akademisches Schmetterlingesammeln?
So wie die Mediziner des 18. und 19. Jahrhunderts verstehen lernen mußten, daß geschwollene Beine und Atemnot Folgen eines vergrößerten, schlecht pumpenden Herzens sind, oder die Gelbverfärbung der Haut bei Gelbsucht Folge einer Entzündung in den Leberlappen ist, muß der heutige Kliniker oder Genetiker erst lernen, welche Relevanz ein Gendefekt hat. Die meisten dieser Erkenntnisse darüber sind nicht älter als zehn bis fünfzehn Jahre. Monatlich werden neue Gene entdeckt.
Aktuell sind allein für Erberkrankungen der Nerven und Muskeln 219 Gene – ein Gen kodiert die Information für ein bestimmtes Protein – mit Defekten und tausenden Mutationen darauf bekannt. Häufig gibt es weltweit nur eine Familie mit einer bestimmten Mutation! Ich gestehe, immer wieder ganz fasziniert zu sein von den ständig überarbeiteten schematischen Abbildungen einer Muskelzelle mit den darin eingezeichneten, bereits bekannt gewordenen Proteinen und deren Beziehung zueinander.
Möglicherweise wird man in zehn oder zwanzig Jahren eine Spezialbezeichnung Arzt für Zellkernerkrankungen oder Arzt für Mitochondrienerkrankungen erwerben können. Spätestens dann werden wie die Leibniz‘schen Monaden unzählige defekte Gene oder gestörte Eiweiße das Universum der medizinischen Terminologie bevölkern.
Seit dem Zeitalter der Rationalität und der Aufklärung, seit dem Anatomen Morgagni, dem Botaniker Linné, dem Phrenologen Lavater, dem Verfasser der ersten Klassifikation der Nervenheilkunde Romberg, ergehen sich die Wissenschaftler in Klassifikationssystemen. Kein Grund zum Spott: Systematisch die Stufen des Wissens zu den kleineren Strukturen hinabzusteigen – Mensch, Gewebe, Zelle, Molekül oder Gen –, stellt auf dem Boden der Naturwissenschaften immer noch die wichtigste, dem Menschen gemäße Möglichkeit dar, Befunde zu begreifen und in einen Zusammenhang zu bringen.
Aber kaum glauben wir, Entscheidendes erkannt und entschlüsselt zu haben – wie das Genom –, öffnet die Natur eine neue Tür. Und die Wissenschaftler stehen fasziniert und erschüttert in einem labyrinthischen Ort, der einem Kupferstich von Piranesi mit den »Carceri«* ähnelt. Ist das Gen erkannt, ist häufig unklar, auf welche Art das dazu gehörige Protein gestört ist. Und an eine sich aus diesen Befunden ergebende wirkungsvolle Therapie ist leider so rasch nicht zu denken. Es gibt viel zu tun.
* Invenzioni capric. di carceri – kapriziöse Erfindungen von Gefängnissen
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