von Hermann-Peter Eberlein
Ein Jüngling namens Remarque ließ die gebildete Welt, zumal aber die preußische ›Dichterakademie‹ aufhorchen, als er den Weltkrieg so mittelmäßig neutral schilderte, daß sowohl Pazifisten wie Bellizisten sowohl dafür wie dagegen waren … Diese Gelegenheit ergriff ich beim albernen Schopf, um … die gesamte weltberühmte Mittelmäßigkeit, angefangen beim Einsteinismus bis hinunter zu Thomas Mann, in einem Pamphlet und einem Pasquill scharf zu geißeln. Ein damals berühmter Journalist, der später durch Selbstmord endete, mordete mich in seiner ›Weltbühne‹. Wie die gebildete Welt nun einmal ist, gab sie mich ihm preis.«
Der Weltbühne-Artikel erschien am Silvestertag 1929, sein Autor zeichnete als Ignaz Wrobel. Remarques Buch ist Im Westen nichts Neues. Das Pamphlet heißt Hat Erich Maria Remarque wirklich gelebt?, sein Autor Salomo Friedlaender, der sich selbst Mynona (Anagramm von Anonym) nannte, ist vor sechzig Jahren gestorben.
Tucholskys Artikel (Hat Mynona wirklich gelebt?) verbindet diesen deutsch-jüdischen Autor und Philosophen, Dadaisten und Kantianer mit dem Blättchen. Dem Streit (in der Sache hat Tucholsky recht; daß er es ablehnt, Mynonas Replik abzudrucken, ist freilich nicht vornehm) soll nicht weiter nachgegangen werden – Mynona ist allemal der Erinnerung wert.
Im Jahr der Reichsgründung, am 4. Mai 1871, wird Salomo Friedlaender in Gollantsch in der Provinz Posen als Sohn eines Arztes geboren. Seine Schullaufbahn ist nicht geradlinig und führt ihn in die verschiedensten Städte; zeitweise arbeitet er als Volontär in einem Basler Fotostudio. Erst im Sommer 1894 besteht er in Freiburg die Reifeprüfung, danach studiert er zunächst in München Medizin, dann in Berlin Zahnmedizin und Philosophie, schließlich Philosophie und eine ganze Palette geisteswissenschaftlicher Fächer in Jena. Dort promoviert er schließlich im Jahre 1902 mit einer Arbeit über Schopenhauer und Kant. Schon zuvor hat Friedlaender kleinere philosophische Essays und Aphorismen veröffentlicht; nun folgen Gedichte und Grotesken, eine »Logik« und eine »Psychologie«, Bücher über Jean Paul, Schopenhauer und Nietzsche. Friedlaender lebt als freier Autor und philosophischer Vorleser seit 1903 in Berlin, wo er zunächst in hektischer Folge die Wohnungen wechselt, bis er 1913 in der Wilmersdorfer Johann-Georg-Straße 20 (seit 1971 erinnert hier eine Bronzetafel an ihn) ein festes Domizil findet. Zu seinem Bekanntenkreis gehört die philosophisch-literarische wie die künstlerische Avantgarde der Vorkriegsära: Martin Buber und Georg Simmel, Herwarth Walden und Else Lasker-Schüler, Erich Mühsam und Kurt Hiller, René Schickele und Karl Kraus, Alfred Kubin, George Grosz und Kurt Schwitters. Seit 1909 veröffentlicht Friedlaender unter seinem Pseudonym; 1911 heiratet er, zwei Jahre später wird ein Sohn geboren. Vom Militärdienst bleibt Friedlaender dank »asthmatischer Konstitution und mangelnder Zurechnungsfähigkeit« verschont; 1919 gründet er gemeinsam mit Anselm Ruest die Zeitschrift Der Einzige, ein anarchistisches Blatt aus dem Geiste Max Stirners. Die Jahre der Weimarer Republik sind sowohl literarisch wie philosophisch ungemein fruchtbar; die vielen Lesungen (vom Berliner Stirnerbund bis zum Prager Mozarteum) und Radiosendungen belegen die Resonanz. Im Herbst 1933 flieht Mynona nach Paris, wo er in immer ärmlicheren Verhältnissen vegetiert, schreibt, was nicht mehr veröffentlicht wird, und einer Verhaftung nur aufgrund seines Alters und seiner schlechten Gesundheit entgeht. Um seine deportierte nichtjüdische Frau zu retten, muß der hinfällige Mann 1943 vom Krankenbett aus einen Ariernachweis für sie in Deutschland beantragen; nach neun Wochen kommt sie frei. Am 9. September 1946 stirbt Salomo Friedlaender und wird auf Kosten der Armenkasse auf dem Friedhof Pantin begraben. Erst ab Mitte der Sechziger Jahre kommt es zu einer mäßigen Rezeption, 1972 zu einer Gedenkausstellung in der Berliner Akademie der Künste, acht Jahre später zu einer zweibändigen Werkauswahl und in der Folge zu weiteren Publikationen aus dem Nachlaß.
Friedlaenders philosophische Hauptwerke sind die Schöpferische Indifferenz von 1918 und Das magische Ich, 1936 im Pariser Exil geschrieben und erst 2001 veröffentlicht. Hier entwirft er auf der Grundlage von Kant und Ernst Marcus seinen »kritischen Polarismus«: das Bild einer Welt ewigen Zwiespalts, den man nur individuell harmonisieren kann, indem man mit seinem ideellen Vernunft-Ich, das über magische Kräfte verfügt, identisch wird. Diese Verbindung von Transzendentalphilosophie und Magie prägt auch Mynonas literarisches Hauptwerk, den Berliner Nachschlüsselroman Graue Magie von 1922, der seit 1989 wieder zugänglich ist: Kriminalroman und Märchen, Science Fiction und Schlüsselroman in einem. Dem Menschen Friedlaender in seiner Zerrissenheit von Genie und Albernheit, Intellektualität und Sexsucht kommt man nahe in seiner Autobiographischen Skizze Ich (1871-1936), die 2003 aus dem Nachlaß ediert wurde. Das Titelbild zeigt einen Charakterkopf mit wallenden Locken, fest, zielgerichtet und höchst selbstbewußt dreinblickend – einen trotz des fatalen Angriffs auf Remarque imponierenden Menschen.
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