Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 4. September 2006, Heft 18

Der Generalserlaß

von Kurt Merkel

Die Deutschland-Fußballwelle ist ja, ohne größere Schäden zu verursachen, zu Ende gegangen. Leute im Haus gegenüber, die wochenlang ihre Fenster mit schwarz-rot-goldenen Tüchern verhängt hatten, sind zur Erkenntnis zurückgekehrt, daß ein unverstellter Blick nach draußen auch seine Vorteile hat. Nur mein Datschennachbar zeigt noch Fahne. Er hat die Fahnenstange an der Hundehütte festgemacht. Das stört seine beiden Huskies, die ohnehin nicht sehr deutsch sind und die Hütte nie benutzen, nicht. Sie heulen von Zeit zu Zeit, mit oder ohne Fahne.
Auch die Waffen SS-Welle scheint schon abzuklingen. Mehr, als den unbequemen Grass mit seiner antifaschistischen Gesinnung in Frage zu stellen, war da wohl nicht drin, und die Gefahr war zu groß, daß doch wieder auf die zum Teil im Ausland verurteilten, aber jedenfalls unbehelligt in Deutschland lebenden tatsächlichen SS-Verbrecher hingewiesen werden könnte.
Nicht wellenförmig, sondern geradlinig aufsteigend verläuft dagegen ein anderer Prozeß, der der Einbeziehung Deutschlands in militärische Abenteuer. Die Zeiten bloßer Mitgliedschaft in der NATO, der Aufrüstung für potentielle Einsätze, der Zurverfügungstellung des deutschen Territoriums für das Teufelszeug der Verbündeten sind längst vorbei. Von der Entsendung von Sanitätssoldaten in ein Krisengebiet ist man zur Verteidigung der deutschen Interessen am Hindukusch und überall in der Welt übergegangen, und die Militärdoktrin der Bundesregierung beinhaltet, so wie es die amerikanische tut, eine weite, die wirtschaftlichen Interessen einbeziehende Interessenbestimmung.
Im jüngsten amerikanischen Krieg, dem gegen den Irak, war es noch gelungen, Deutschland aus einer direkten Beteiligung am Angriffskrieg herauszuhalten. Die Unterstützung durch Geheimdienstleute führte zu Untersuchungen, und die Weigerung eines Majors, einen Befehl auszuführen, der zur Beihilfe am Krieg hätte führen können, wurde tatsächlich vom Bundesverwaltungsgericht als rechtens und der Krieg der Amerikaner als völkerrechtswidrig erkannt. Das Blättchen berichtete darüber (Heft 23/2005).
Doch inzwischen spielt die deutsche Politik eine aktivere Rolle bei aktuellen internationalen Konflikten im Gefolge des großangelegten amerikanischen Plans zur Umgestaltung der Region des Nahen Ostens. Bei der Eskalierung des Drucks auf den Iran war Deutschland als einziges nicht ständiges Mitglied des Sicherheitsrats unmittelbar beteiligt. Die Aufkündigung eines geplanten Besuchs des deutschen Außenministers in Damaskus, der der Einbeziehung Syriens in Friedensbemühungen dienen sollte, erhöhte den Druck auf dieses Land. Die Begründung der Absage mit einer Assad-Rede ist nichtig: Assad hatte nichts anderes gesagt, als er immer sagt. Und die Art der Diskussion um eine mögliche Beteiligung des deutschen Militärs zur Sicherung der Grenzen zwischen Israel, dem Libanon und Syrien zielt in die gleiche Richtung: Man müsse keine Sorge haben, daß Deutsche auf Israelis schießen müßten, der Auftrag könne nur darin bestehen, die Sicherheit Israels zu garantieren, also auf die anderen zu schießen. Überhaupt fällt auf, daß vom Recht des Libanons, Syriens und der Palästinenser auf eine gesicherte Existenz nirgends die Rede ist.
Da ist interessant, welche Vorstellungen in deutschen politischen und juristischen Kreisen in bezug auf eine aktivere deutsche Teilnahme an fragwürdigen militärischen Aktionen bestehen. Erst jetzt kam mir ein Vorgang zu Gesicht, der im FriedensForum 1/2006 dokumentiert wurde. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie hatte im Januar 2006 beim Generalbundesanwalt Anzeige gegen den früheren Kanzler Schröder wegen »des Verdachts der Vorbereitung eines Angriffskrieges« erstattet, um endlich eine Reaktion auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2005 zu erreichen. Das Antwortschreiben des Generalbundesanwalts ist wahrhaft lesenswert, da es weit über den gegebenen Anlaß hinausgehende Feststellungen trifft. Da heißt es nämlich: »Nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift ist nur die Vorbereitung an einem Angriffskrieg und nicht der Angriffskrieg selbst strafbar, so dass auch die Beteiligung an einem von anderen vorbereiteten Angriffskrieg nicht strafbar ist … Folglich scheidet als möglicher Täter aus, wer sich erst bei oder nach Kriegsausbruch in das kriegerische Unternehmen einschaltet.«
Was ist das? Eine Regieanweisung für die Teilnahme an den nächsten völkerrechtswidrigen Aktionen im Nahen Osten? Eine vorweggenommene Rechtfertigung kommenden deutschen Großmacht-Säbelrasselns? Gibt das die Richtung vor für die vor allem von den Ministern des Inneren und für Verteidigung seit langem angestrebten Veränderungen des Grundgesetzes?