Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 18. September 2006, Heft 19

Amerikas Rottweiler

von Uri Avnery, Tel Aviv

In seiner jüngsten Rede formulierte der syrische Präsident Bashar al-Assad einen Satz, der Aufmerksamkeit verdient: »Jede neue arabische Generation wird Israel mehr hassen als die vorhergehende.«
Von allem, was bis jetzt über den zweiten Libanonkrieg gesagt wurde, ist dies vielleicht der wichtigste Satz. Das Hauptergebnis dieses Krieges ist Haß. Die Bilder von Tod und Zerstörung im Libanon kamen in jedes arabische Haus, vielleicht in jedes muslimische Haus, von Indonesien bis Marokko, vom Jemen bis zu den muslimischen Ghettos in London und Berlin. Die Israelis ignorierten diese Szenen, die tatsächlich auch kaum auf Israels Bildschirmen gezeigt wurden. Die Israelis waren viel zu sehr mit den Zerstörungen beschäftigt, die in unseren nördlichen Städten angerichtet worden waren. Gefühle des Mitleids und Empathie für Nicht-Juden sind hier seit langem erloschen. Es ist ein schrecklicher Fehler, die Ergebnisse dieses Krieges zu ignorieren.
Um die Bedeutung von Assads Worten zu verstehen, müssen sie im historischen Kontext gesehen werden. Die zionistische Bewegung hat einen fremden Körper in dieses Land gepflanzt, das ein Teil der arabisch-muslimischen Welt war. Die Einwohner des Landes und der gesamten arabischen Region lehnten die zionistische Entität ab. Inzwischen hat die jüdische Ansiedlung hier Wurzeln geschlagen und ist zu einer echten neuen Nation geworden, die in diesem Lande verwurzelt ist. Seine Verteidigungskraft gegen die Zurückweisung ist gewachsen. Dieser Kampf dauert nun schon 125 Jahre und wird von Generation zu Generation immer gewalttätiger. Der jüngste Krieg war nur eine weitere Episode.
Was ist bei dieser Auseinandersetzung unser historisches Ziel? Ein Dummkopf wird sagen: Es gibt keine Lösung. Diese Situation wird auf immer so bleiben. Dagegen kann nichts gemacht werden, außer daß wir uns in einem Krieg um den anderen verteidigen. Und der nächste Krieg klopft schon an unsere Tür.
Der Weise jedoch wird sagen: Unser Ziel ist es, daß der Körper das eingepflanzte Organ als seines akzeptiert, damit sein Immunsystem uns nicht weiter wie einen Feind behandelt, der um jeden Preis abgestoßen werden muß. Wenn dies das Ziel ist, müssen unsere Bemühungen in erster Linie in diese Richtung gehen.
Nach diesem Kriterium war der zweite Libanonkrieg eine Katastrophe. Vor 59 Jahren – zwei Monate vor unserm Unabhängigkeitskrieg – veröffentlichte ich eine Broschüre mit dem Titel Krieg oder Frieden in der semitischen Region. In der Einleitung hieß es: »Als unsere zionistischen Väter entschieden hatten, in Palästina einen ›sicheren Hafen‹ für das jüdische Volk zu schaffen, hatten sie die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Sie konnten in Kleinasien wie europäische Eroberer auftauchen, um einen Brückenkopf der ›Weißen‹ zu bilden und sich zu den Eingeborenen wie Herrenmenschen zu verhalten – eben wie die spanischen Konquistadoren oder die angelsächsischen Kolonisten in Nordamerika. So hatten sich die Kreuzfahrer in Palästina verhalten. Die andere Möglichkeit wäre die: sich als asiatisches Volk zu betrachten, das wieder zurückkommt, ein Volk, das sich als Erbe des politischen und kulturellen Erbes der semitischen Rasse sieht und das bereit ist, sich den Völkern der semitischen Region im Kampf gegen die europäische Ausbeutung anzuschließen.«
Wie nur zu gut bekannt ist, wählte der Staat Israel, der ein paar Monate später gegründet wurde, den ersten Weg. Er reichte der französischen Kolonialmacht die Hand und versuchte Großbritannien zu helfen, an den Suezkanal zurückzukehren, und seit 1967 ist er der kleine Bruder der Vereinigten Staaten geworden.
Es wäre vermeidbar gewesen. Im Laufe der Jahre gab es immer wieder Anzeichen dafür, daß das Immunsystem der arabisch-muslimischen Welt begann, das Transplantat Israel aufzunehmen – wie ein menschlicher Körper das Organ eines nahen Verwandten annimmt – und uns zu akzeptieren. Solch ein Anzeichen war der Besuch von Anwar Sadat in Jerusalem. Ebenso der Friedensvertrag, der mit König Hussein, einem Nachkommen des Propheten Mohammed, geschlossen wurde. Und vor allem die historische Entscheidung Yassir Arafats, des Führers des palästinensischen Volkes, mit Israel Frieden zu machen.
Aber nach jedem großen Schritt vorwärts kam ein israelischer Schritt zurück. Es ist so, als ob das Transplantat die Akzeptanz des Körpers ablehne. Als ob es sich daran gewöhnt habe, zurückgewiesen zu werden und nun alles dafür tut, den Körper dahin zu bringen, es noch heftiger zurückzuweisen. Zwar haben sich alle von unserer Regierung anvisierten Kriegsziele – eines nach dem anderen – in Luft aufgelöst; nun aber werden neue Gründe aufgetischt: Der Kampf der Kulturen, die große Kampagne der westlichen Welt und ihre hochnäsigen Werte gegen die barbarische Finsternis der islamischen Welt.
Das erinnert einen natürlich an die Worte Theodor Herzls, des Gründers des modernen Zionismus’, die er vor 110 Jahren im Gründungsdokument der zionistischen Bewegung Der Judenstaat schrieb: »Für Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen.« Ohne es zu wissen, wiederholte Olmert diese Idee als Rechtfertigung für diesen Krieg, um Präsident Bush zu gefallen.
Was für ein »Kampf« herrscht zwischen dem muslimischen Indonesien und dem christlichen Chile oder zwischen Polen und Marokko? Was verbindet Malaysia mit dem Kosovo, zwei muslimischen Staaten? Oder zwei christliche Staaten wie Schweden und Äthiopien? In welcher Weise sind die Ideen des Westens erhabener als die des Ostens? Die Juden, die den Flammen der christlichen Inquisition in Spanien entronnen, wurden vom muslimisch-ottomanischen Empire mit offenen Armen aufgenommen. Der in einem der kultiviertesten europäischen Völker demokratisch als Führer gewählte Adolf Hitler beging den Holocaust – ohne daß der Papst protestierend seine Stimme erhoben hätte. In welcher Weise sind die geistigen Werte der Vereinigten Staaten, der Großmacht des Westens, denen von Indien und China, den aufstrebenden Mächten des Ostens, überlegen?
Samuel Huntington war gezwungen, zuzugeben: »Der Westen gewann die Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen oder Werte oder der Religion, vielmehr durch seine Überlegenheit, organisierte Gewalt anzuwenden. Die Euro-Amerikaner vergessen oft diese Tatsache – der Rest der Welt nicht.« Die Wahrheit ist natürlich, daß dieses ganze Gerede vom Kampf der Kulturen nichts anderes als ein ideologischer Deckmantel für etwas ist, das keinerlei Zusammenhang mit Ideen und Werten hat: nämlich der Entscheidung der USA, die Bodenschätze der Welt, insbesondere das Öl, zu beherrschen.
Der zweite Libanonkrieg wird von vielen als Stellvertreterkrieg angesehen. Danach sind die Hisbollah der Dobermann des Irans und wir der Rottweiler der USA. Die Hisbollah erhält ihr Geld, die Raketen und die Unterstützung von der islamischen Republik; wir erhalten das Geld, die Streubomben und die Unterstützung von den USA. Das ist sicher übertrieben. Die Hisbollah ist eine echte libanesische Bewegung, die tief in der schiitischen Gemeinschaft verwurzelt ist. Die israelische Regierung hat ihre eigenen Interessen – die besetzten Gebiete –, die nicht von Amerika abhängen. Aber zweifellos steckt in der These, daß dies auch ein Stellvertreterkrieg war, einige Wahrheit.
Die USA kämpfen gegen den Iran, weil der Iran eine Schlüsselrolle in der Region innehat, in der die bedeutendsten Erdölreserven der Welt lagern. Wer das Öl kontrolliert, kontrolliert auch die Welt. Die USA würden den Iran auch angreifen, wenn er von Pygmäen bewohnt wäre, die dem Dalai Lama anhängen. Es gibt eine schockierende Ähnlichkeit zwischen George W. Bush und Mahmud Ahmadinejad: Der eine führt persönliche Gespräche mit Jesus – der andere hat einen direkten Draht zu Allah. Aber der eigentliche Name des Spiels lautet Vorherrschaft.
Was für ein Interesse haben wir denn, in diesen Kampf mit hineingezogen zu werden? Welches Interesse haben wir, als Anhänger des größten Feindes der muslimischen Welt im allgemeinen und mit Recht in der arabischen Welt im besonderen angesehen zu werden? Wir wollen hier noch in 100, in 500 Jahren leben. Unsere grundlegenden nationalen Interessen fordern deshalb, daß wir unsere Hände den arabischen Nationen entgegenstrecken, die uns akzeptieren, damit wir gemeinsam mit ihnen die Region wieder aufbauen. Das war vor 59 Jahren die Wahrheit, und dies gilt auch für die nächsten 59 Jahre.
Kleine Politiker wie Olmert, Peretz und Halutz sind unfähig, in diesen Kategorien zu denken. Aber wo sind die Intellektuellen, die weitsichtiger sein sollten? Bashar al-Assad mag kein großer Denker sein. Aber seine Bemerkung sollte uns sehr nachdenklich machen.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, Christoph Glanz, redaktionell gekürzt