Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 21. August 2006, Heft 17

Der Dolchstoß

von Uri Avnery, Tel Aviv

Der Tag nach dem Krieg wird der Tag der langen Messer sein. Jeder wird jedem die Schuld geben. Die Politiker werden einander beschuldigen. Die Generäle werden einander beschuldigen. Die Politiker werden die Generäle beschuldigen. Und vor allem werden die Generäle die Politiker beschuldigen. In jedem Land und nach jedem Krieg, in dem die Generäle versagten, wird die Legende vom »Dolchstoß in den Rücken« neu aufgewärmt. Wenn doch nur die Politiker die Armee nicht in dem Augenblick gestoppt hätten, als sie gerade im Begriff war, einen großartigen historischen Sieg zu erringen …
Dies geschah in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, als durch diese Legende die Nazibewegung geboren wurde. Dies geschah in Amerika nach dem Vietnamkrieg. Das ist es, was jetzt hier geschieht. Man kann es schon spüren. Um den Eindruck zu erwecken, etwas erreicht zu haben, behauptete der Militärsprecher gestern, daß »es uns gelungen sei, 200 (oder 300 oder 400 – wer zählt sie schon?) von den tausend Hisbollahkämpfern zu töten. Die Behauptung, daß die ganze schreckliche Hisbollah aus nur tausend Kämpfern besteht, spricht allein schon Bände.
Nach Korrespondentenberichten ist Bush frustriert. Die israelische Armee habe nicht die »Ware geliefert«. Bush hat sie im Glauben in den Krieg geschickt, daß sie eine mächtige Armee sei, die, mit den neuesten und besten amerikanischen Waffen ausgerüstet, den »Job in wenigen Tagen erledigen« werde. Sie sollte die Hisbollah eliminieren, den Libanon den Marionetten der USA vermachen, den Iran schwächen und vielleicht auch den Weg zu einem »Regimewechsel« in Syrien vorbereiten. Kein Wunder, daß Bush so ärgerlich ist. Ehud Olmert ist sogar noch wütender. Er ging in gehobener Stimmung und mit leichtem Herzen in den Krieg, weil die Generäle der Luftwaffe versprochen hatten, die Hisbollah und ihre Raketen innerhalb weniger Tage zu zerstören. Nun steckt er im Dreck – und kein Sieg ist in Sicht.
Die Kommandeure der Landarmee werden dem Generalstabschef und der machtbesessenen Luftwaffe, die versprochen hatten, den Sieg alleine zu erlangen, Vorhaltungen machen. Die Jünger des Generalstabschefs und der anderen Luftwaffengeneräle werden den Landstreitkräften, besonders dem Kommando Nord die Schuld geben. Ihre Sprecher erklärten schon, dieses Kommando sei voll unfähiger Offiziere, die man dorthin abgeschoben habe, da im Norden nichts los wäre und die wirklichen Aktionen im Süden (Gaza) und im Zentrum (Westbank) geschähen.
Seit Jahren wird uns erzählt, daß wir die aller-aller-allerbeste Armee der Welt hätten. Wir waren nicht nur selbst davon überzeugt, sondern auch Bush und die gesamte Welt. Wir hatten einen großartigen Sieg im Sechs-Tage-Krieg. Als dieses Mal die Armee nicht innerhalb von sechs Tagen einen großen Sieg erlangte, war jeder erstaunt. Was war nur geschehen?
Eines der erklärten Ziele dieses Krieges war die Wiederherstellung der Abschreckungswirkung der israelischen Armee. Das trat nicht ein. Denn die andere Seite der Arroganz ist die tiefe Verachtung gegenüber den Arabern, eine Haltung, die schon in der Vergangenheit zu Fehlschlägen führte. Es genügt, an den Yom Kippur-Krieg zu erinnern. Nun erfahren unsere Soldaten auf schmerzliche Weise, daß die »Terroristen« hoch motivierte, tapfere Kämpfer sind und keine Junkies, die von »ihren« Jungfrauen im Paradies träumen.
Militärexperten wissen, daß man in einem Krieg nur Erfolg haben kann, wenn man ein klares Ziel hat, dieses Ziel erreichbar ist und dafür die nötigen Mittel vorhanden sind. Alle drei Vorbedingungen fehlen in diesem Krieg. Das ist die Schuld der politischen Führung. Deshalb sollte die Hauptschuld den »Zwillingen«, Olmert und Peretz, angelastet werden. Sie waren der Versuchung des Augenblicks erlegen und haben den Staat in einen Krieg geführt – in eine Entscheidung, die voreilig, unüberlegt und fahrlässig war.
Olmert und Peretz, Greenhorns in Kriegsangelegenheiten, wußten nicht, daß man sich nicht auf die Prahlerei der Generäle verlassen kann, daß selbst die besten militärischen Pläne das Papier nicht wert sind, auf denen sie geschrieben sind, daß im Krieg das Unerwartete erwartet werden muß und daß nichts so schnell vergeht wie Kriegsruhm. Sie waren berauscht von der Popularität des Krieges und wurden von einer Herde katzbuckelnder Journalisten angestachelt.
Zu Beginn des Krieges wies die Regierung den Gedanken weit von sich, eine internationale Truppe entlang der Grenze aufzustellen. Die Armee war der Überzeugung, daß solch eine Truppe Israel nicht schützen, sondern nur ihren Handlungsspielraum einschränken würde. Auf einmal ist die Aufstellung solch einer Truppe zum Hauptziel der Feldzugs geworden. Die Armee fährt mit ihrer Operation nur fort, »um die Grundlage für die internationale Truppe vorzubereiten«.
Das ist natürlich ein erbärmliches Alibi, eine Leiter, mit der man vom hohen Ast wieder heruntersteigen möchte. Die internationale Truppe kann nur in Übereinstimmung mit der Hisbollah aufgestellt werden. Kein Land wird Soldaten an einen Ort schicken, an dem es Einheimische würde bekämpfen müssen. Überall werden die lokalen Schiiten in ihre Dörfer zurückkehren – und zusammen mit ihnen auch die Hisbollah-Untergrundkämpfer.
Nichts wird die Hisbollah daran hindern, jederzeit, wenn sie will, ihre Raketen über die Köpfe einer internationalen Truppe zu schicken. Was sollte die internationale Truppe denn dann machen? Das ganze Gebiet bis Beirut erobern? Und wie wird Israel reagieren?
Olmert will, daß eine internationale Truppe die libanesisch-syrische Grenze kontrolliert. Auch das ist illusorisch. Diese Grenze ist lang. Jeder, der Waffen schmuggeln will, wird dies nicht über die Hauptstraßen tun, die von internationalen Soldaten kontrolliert werden. Er wird hunderte von Möglichkeiten entlang der Grenze finden. Mit der entsprechenden Bestechung kann man im Libanon alles erreichen.
Deshalb werden wir nach dem Krieg mehr oder weniger an derselben Stelle wie zuvor stehen, vor der Tötung von fast tausend Libanesen und Israelis, vor der Vertreibung von mehr als einer Million Menschen, Libanesen und Israelis, vor den Zerstörungen im Libanon und in Israel.
Nach dem Krieg wird sich die Begeisterung beruhigen: Die Einwohner des Nordens werden ihre Wunden lecken, und die Armee wird beginnen, ihre Fehlschläge zu untersuchen. Jeder wird behaupten, daß er oder sie von Anfang an gegen diesen Krieg war. Dann wird der Tag des Gerichts kommen. Die Schlußfolgerung, die sich von alleine stellt: Werft Olmert aus seinem Amt, schickt Peretz nach Hause, und entlaßt Halutz. Um einen neuen Kurs einzuschlagen, den einzigen, der das Problem lösen wird: Verhandlungen und Frieden mit den Palästinensern, den Libanesen und des Syrern – und mit der Hamas und der Hisbollah. Weil man nur mit Feinden Frieden macht.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs; von der Redaktion gekürzt.