Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 10. Juli 2006, Heft 14

Krippe und Stasi

von Thomas Hofmann

In diesen Tagen wurde verschiedentlich an den »Historikerstreit« erinnert, in dessen Mittelpunkt vor zwanzig Jahren der rechtskonservative Historiker Ernst Nolte stand. Er hatte einen »kausalen Nexus« zwischen Stalinismus und Nationalsozialismus konstatiert und ein »faktisches Prius« des Bolschewismus postuliert, auf das die damaligen deutschen Eliten 1933 in einer Art von Notoperation reagiert hätten: mit der Machteinsetzung des Faschismus. Noltes Vorstoß scheiterte damals am Widerstand der linksliberalen Autoritäten der westdeutschen Republik.
Mit der Öffnung der Berliner Mauer 1989 änderte sich jedoch die Szene. Es begann die als »DDR-Aufarbeitung« firmierende Sichtung vielfach trüber Hinterlassenschaften des SED-Staates, vor allem der an Orwell erinnernden Aktenbestände des MfS und anderer »Organe«. Jahr für Jahr ausgestattet mit dreistelligen Millionenbeträgen entwickelte sich um eine nach dem Mecklenburger Pastor Gauck benannte Behörde ein neuer Zweig der »Zeitgeschichte«: die »vergleichende Diktaturforschung«, die im Rückgriff auf eher holzschnittartige Varianten der Totalitarismustheorie der fünfziger Jahre einige Bücherwände neuer Forschungsliteratur produzierte.
Unter Kanzler Schröder, der seinen Wählern in Niedersachsen einst erklärt hatte, »wir mußten sie (die Ostdeutschen) ja nehmen, wir konnten sie ja nicht den Polen geben!«, fiel dann auf, daß die »DDR-Aufarbeitung« viel Geld kostete, und so erhielt die tüchtige Kulturstaatsministerin Weiss den Auftrag zur »Verschlankung«. Sie berief eine Kommission unter Vorsitz des in Potsdam lehrenden Historikers Martin Sabrow.
Während die Kommission noch arbeitete, sah es im Sommer 2005 plötzlich danach aus, als kämen wieder einmal neue Zeiten. Für einige Herrschaften im Umfeld der von der Thüringer Landesregierung finanzierten Ettersberg-Stiftung (unter Vorsitz des sehr konservativen Adenauer- und Springer-Biographen Hans-Peter Schwarz) war dies Grund genug, über ein revidiertes Geschichtsbild zu beraten. Unter der Überschrift Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur traf sich im Oktober 2005, kurz nach der Bundestagswahl, im schönen Weimar zu einer pompösen Tagung ein illusterer Kreis zumeist konservativer Historiker mit der Prominenz der ostdeutschen »Aufarbeitungs-Szene« – darunter Joachim Gauck, Marianne Birthler, Ehrhart Neubert, Hubertus Knabe (aus Unna/NRW), Markus Meckel. Daß eine breitere Öffentlichkeit davon erfuhr, verdanken wir Franziska Augstein (Süddeutsche Zeitung): »in Weimar ging es hoch her. … Die wichtigsten Repräsentanten des DDR-Erinnerungswesens trafen hier zusammen, und die von der Geldnot provozierten Streitigkeiten in der Gemeinde … traten offen zutage.«
Dabei tat sich wohl vor allem Hubertus Knabe, Leiter der Gedenkstätte in Berlin-Hohenschönhausen hervor, der der Leiterin der Gauck-Behörde, Marianne Birthler entgegenschleuderte, ihre Einrichtung gehöre abgeschafft; die hundert Millionen, die sie im Jahr erhalte, sollten andernorts verteilt werden. Tonangebend war jedoch der Nolte-Schüler Horst Möller, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München: Die DDR sei ein Betriebsunfall und eine Fußnote der deutschen Geschichte. Auf »dem dritten Weg sind Deutsche nie gewesen, immer nur auf dem rechten«, ätzte die engagierte Journalistin und resümierte: »ein konzertierter Versuch, die deutsche Geschichte umzuschreiben«.
Im Mai 2006 unterbreitete die »Sabrow-Kommission« bedenkenswerte Vorschläge, die sowohl Organisatorisches wie die Schaffung eines »Geschichtsverbundes« zur Eindämmung von institutionellem Wildwuchs als auch veränderte inhaltliche Schwerpunktsetzungen – mehr Alltagsgeschichte statt ausschließlicher Konzentration auf staatliche Repression – beinhalten. Solch Bemühen, das darauf abzielt, die parteipolitische Aufladung der Darstellung der deutschen Nachkriegsgeschichte einzudämmen, stößt, wie nicht anders zu erwarten, im Umfeld der Gauck-Birthler-Behörde und der angeschlossenen Spezialunternehmen der »Totalitarismusforschung« auf lautstarke Polemik. Dabei wird – seit sechzehn Jahren eingeübt – mit dem Opferstatus und im Betroffenheitsgestus hantiert und der Vorwurf, es gehe um eine »Verharmlosung« der SED-Diktatur, inflationär verwendet. Gesicherte methodische Grundsätze der Geschichtsforschung wie der, daß Forschung sine ira et studio und nicht nach Art einer Urschrei-Therapie zu betreiben sei, werden genauso ignoriert wie die Regel, daß historische Aufklärung bestimmte sozialpsychologische und didaktische Gesichtspunkte zu beachten habe.
Im Juni, vor einer Anhörung im Bundestag, traten versierte Polemiker und Propagandisten an die Öffentlichkeit. Hubertus Knabe wandte sich gegen die Unterordnung der von ihm nur mangelhaft geleiteten Gedenkstätte Hohenschönhausen unter die Gauck-Behörde mit der Behauptung, seine Eigenständigkeit solle in einem »Erinnerungskombinat« erstickt werden. Jochen Staadt vom Forschungsverbund SED-Staat, bekannt für seine Denunziationskampagnen gegen Vertreter der ostdeutschen Intelligenz, wütete in der FAZ gegen die »einseitige« Zusammensetzung der Sabrow-Kommission. Manfred Wilke, gleichfalls vom Forschungsverbund, erhob bei der Anhörung den Vorwurf des »institutionellen Lobbyismus« einzelner Kommissionsmitglieder. Horst Möller, einer der Wortführer der Weimarer Tagung vom Oktober 2005, meinte gar, die Stasi sei für die DDR charakteristischer gewesen als die Kinderkrippen und die Kommissionsvorschläge führten zu einem »weichgespülten DDR-Bild«.
Gerade in solchen Gegenüberstellungen – hier MfS-Praktiken, dort Kinderkrippen – liegt ein entscheidender Grund für die bildungspolitische Fruchtlosigkeit der seit sechzehn Jahren mit Milliardenaufwand betriebenen »DDR-Aufarbeitung«. Denn in der gesellschaftlichen Realität der DDR gab es beides, das MfS und die Krippe. Und: Die Mehrheit der Bürger erinnert sich, trotz aller Spitzelei der Stasi, eher an die Kinderkrippe, denn mit ihr hatte sie im Alltag eher zu tun. Eine didaktisch versierte Geschichtsschreibung würde die Menschen da »abholen«, wo sie mit ihren Erinnerungen stehen – zumeist also an der Kinderkrippe und nicht in Bautzen II – und dafür werben, sich für die Erkenntnis zu öffnen, daß es neben der Sozialpolitik des SED-Staates dunkle, repressive Seiten gab, ja, daß oftmals beides gar nicht voneinander zu trennen war.
Die, die den Geschichtsdiskurs prägen, gehen genau umgekehrt vor: Das »Wesen« der DDR sei das MfS gewesen, folglich müsse es im Mittelpunkt aller Forschungen stehen. Derart legitimiert, haben sich seit 1990 Hunderte von Amateurhistorikern auf das Thema »Stasi« gestürzt und eine »Geisterbahn«-Historiographie produziert, die von der breiten Bevölkerung bestenfalls indifferent aufgenommen wird.
Ohne jeden Anflug, den SED-Staat mit Hitler-Deutschland gleichsetzen zu wollen, sei darauf hingewiesen, daß sowohl die westalliierte Reeducation als auch der ostdeutsche »Antifaschismus« bei großen Teilen der Bevölkerung scheiterten, weil sie als Strategien einer Aufklärung schlichtweg falsch konzipiert waren. Menschen, die sich beim Thema Nationalsozialismus vorwiegend an Kinderlandverschickung und Nächte im Luftschutzkeller erinnerten, konnte man noch so viel über Kriegsschuld, Militarismus und Konzentrationslager erzählen, die erhoffte Besinnung und Reue über die Verbrechen blieben äußerlich, ja, es wurden geradezu Trotz und Verweigerung erzeugt. Will man Nachdenklichkeit erzeugen, muß man schon vom Roß der Hypermoralität heruntersteigen und das Leben in Diktaturen als »mixed situation« akzeptieren, in dem es beides gibt, Kinderlandverschickung und KZ oder, mit Blick auf die DDR, Krippe und Stasi. Keine Gleichsetzung, aber eine Parallele.
Joachim Gauck hat, nachdem für die nach ihm benannte Behörde Hunderte von Millionen an Steuergeldern ausgegeben wurden, jüngst bemerkt, daß eine isolierte »DDR-Aufarbeitung«, die – so seine eigene Wortwahl – mit »Überwältigungspädagogik« operiert, in die Sackgasse geführt hat: »Überwältigungspädagogik überzeugt nicht immer.« (Spiegel 25/2006) Er erwähnt Symptome einer autoritären Drangsalierung der Gesellschaft, die er künftig im Rahmen der »DDR-Aufarbeitung« stärker berücksichtigt wissen will: freiwillig-unfreiwillige Aktivitäten aller Art, Zwangsmitgliedschaften und Konformitätsdruck, karriereförderliche Meldungen zum Militärdienst, Parteibuchwirtschaft und jegliche Form der Untertänigkeit. Dem kann jeder, der in den fünfziger und sechziger Jahren in westdeutschen Provinzen lebte, nur beipflichten. Er wird Gaucks Symptome der gesellschaftlichen Drangsalierung durch analoge Beispiele komplettieren können. Trotz Grundrechten, Rechtsstaat und Demokratie im Westen.
Obrigkeitshörigkeit und Überangepaßtheit in Ost und West haben weniger mit Kapitalismus und Sozialismus zu tun als mit einer systemübergreifenden Kleingeistigkeit und Spießigkeit jener Eliten, die nach der Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945 von den Siegermächten an die Schalthebel gesetzt wurden. Daß es in Westdeutschland dann am Ende der sechziger Jahre besser wurde, ist ein Verdienst jener vielgescholtenen 68er Bewegung, die wegen ihrer Linksorientierung gerade ostdeutschen Bürgerrechtlern um Joachim Gauck so verdächtig ist.