Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 10. Juli 2006, Heft 14

Die Steine schreien

von Uri Avnery, Tel Aviv/Sarajewo

Sarajewo ist eine Stadt der Gräber – Dutzende von Friedhöfen liegen in ihr zerstreut, kleine, große und sehr große. Tausende von weißen Grabsteinen blenden die Augen, meistens in derselben Größe und mit einfachen Inschriften und frischen Kränzen. 12000 Einwohner der Stadt wurden während der Belagerung getötet, unter ihnen 1500 Kinder unter vierzehn Jahren. Die Gesellschaft leidet unter diesem Trauma.
Und trotz allem ist es eine vibrierende Stadt. Verkehrsstaus, alte, klapprige Autos, Straßen und Fußgängerwege voller Einschußnarben. Die Stadt versucht, sich zu erholen: Viele der quadratischen Häuser sehen aus, als wären sie von Kindern gemalt worden, sie wurden nun noch einmal mit braunen, grünen und gelblichen Farben angestrichen. Zwischen ihnen stehen Obstbäume und kleine Gärtchen mit riesigen Rosenbüschen.
In der Mitte der Stadt befindet sich ein türkischer Palast, von den Österreichern erbaut, als sie über Bosnien herrschten. In ihm war die Staatsbibliothek beheimatet, eine der bedeutendsten Bibliotheken der Welt. Sie wurde während der Belagerung durch Feuer völlig zerstört. Hinter der imponierenden Fassade nur Trümmer.
Ein früherer Kommandeur mit grauem Haar und sonnverbranntem, furchigem Gesicht zeigte uns die Schlachtplätze und erklärte uns die Geschichte der Belagerung. Ich hatte das Gefühl, ich sei selbst dabei gewesen. Jedes Wort erinnerte mich an meine eigene Erfahrung im Krieg von 1948 in Palästina. Die improvisierte Armee; das Gefühl, es gebe keine Alternative; die Angst, wenn wir die Schlacht verlieren, werden wir und unsere Familien massakriert; der Mangel an Waffen; das Gefühl der wenigen gegen die vielen; der Durchbruch zu einer belagerten Stadt (das jüdische Jerusalem); die verwischte Linie zwischen Zivilisten und Soldaten. Den Krieg in Bosnien verfolgte ich mit dem Gefühl, daß er sehr unserem eigenen Krieg ähnele. Es war ein ethnischer Krieg, ein Krieg, der gekennzeichnet war durch das, was seitdem »ethnische Säuberung« genannt wird.
Der 1948er Krieg in Palästina war ein ethnischer Krieg zwischen Arabern und Juden. Jede Seite glaubte, daß ihr das gesamte Land gehöre. Die Hälfte des palästinensischen Volkes wurde aus ihren Häusern und von ihrem Land vertrieben, einige durch die Kämpfe selbst, einige durch bewußte israelische Politik. Um der historischen Wahrheit willen muß erwähnt werden, daß in den von der arabischen Seite eroberten Gebieten (sie waren zwar klein) keine Juden zurückblieben. Aber wir eroberten 78 Prozent des Landes, und von ihm wurden 750000 Araber vertrieben, während weniger als einhunderttausend blieben. Hunderte Dörfer wurden nach dem Krieg dem Erdboden gleichgemacht, und an ihrer Statt wurden jüdische Dörfer gebaut. Ganze arabische Stadtteile wurden »entleert«, und jüdische Emigranten ersetzten die früheren Bewohner. Eroberung und Vertreibung gehören zusammen. Kurz gesagt: ethnische Säuberung. Der bosnische Krieg war ähnlich, außer daß anstelle von zwei Seiten wie in unserem Krieg es drei Seiten gab: Bosniaken (Muslime), Serben (orthodoxe Christen) und Kroaten (katholische Christen).
Für den Photographen, der für eine lokale Zeitschrift ein Foto von mir machte, war es schwierig, mir seinen Familienstammbaum zu erklären: der eine Großvater, ein Muslim, heiratete eine Kroatin. Der andere war halb Serbe, halb Montenegriner, während seine Frau eine Muslima war. »Wir müssen alle zusammenleben«, sagte er mehrfach, »es gibt keinen wirklichen Unterschied zwischen uns!« Und tatsächlich, da ist wirklich ein großer Unterschied zwischen unserem und dem bosnischen Krieg. Hier, wo sich alle drei »mit Vergnügen« gegenseitig umbrachten, spricht die gesamte Bevölkerung dieselbe Sprache. Alle sind Nachkommen derselben slawischen Stämme, die im 7. Jahrhundert dieses Land eroberten. Auf der Straße kann man nicht zwischen einem Muslim, einem Kroaten und einem Serben unterscheiden.
»Ich kann bei Nacht nicht schlafen,« erzählte uns ein muslimischer Koch in einem Restaurant. »Jede Nacht kommen die Bilder zurück und verfolgen mich. Ich will sie vergessen und kann es nicht.« Als er achtzehn war, wurde er, ein großer, muskulöser junger Mann, in die damalige jugoslawische Armee eingezogen, die von den Serben dominiert war. Als der Krieg zwischen den Serben und Kroaten ausbrach, wurde er einer Sondereinheit zugeteilt und nach Vukovar gesandt, wo die Serben ein schreckliches Massaker an den Kroaten begingen. »Wir legten sie um – eine Reihe nach der andern – Dutzende, Hunderte, Männer, Frauen und Kinder, ich auch. Ich hatte keine andere Wahl. Wenn man sich geweigert hätte, hätten die Kommandeure einem ins Genick geschossen. Schließlich stahl ich einen LKW mit Waffen und desertierte. Ich wurde geschnappt und landete für ein halbes Jahr im Gefängnis. Es war hart, sehr hart. Ich floh und kam zu den Kroaten. Sie teilten mich einer ihrer Sondereinheiten zu, bis es mir gelang, zu desertieren und nach Hause nach Sarajewo zu kommen. Nun lebe ich mit meinem Vater und meiner Mutter zusammen und möchte eines Tages eine Gaststätte eröffnen, ein Familie gründen – und zur Hölle mit den anderen!« Nach einem Moment fügte er noch hinzu: »Es sind die Politiker, die an allem Schuld sind. Wenn ich Gott wäre, würde ich sie alle töten.«
Für einen Israeli ist es schwierig zu begreifen, daß fast alle Menschen auf der Straße Muslime sind. Sie ähneln nicht den Muslimen, die wir von zu Hause kennen. Sie sind hellhäutig, Europäer, fast alle Kinder sind blond. Außer dem Großmufti, der bei einer Podiumsdiskussion neben mir saß, traf ich niemanden, der arabisch konnte. Ich sah auch niemanden eine Wasserpfeife rauchen, nicht einmal in der Nähe von Dutzenden von Moscheen in der Stadt. Wenige Frauen bedecken ihr Haar mit einem seidenen Tuch. Es ist ziemlich seltsam, solch junge Frauen mit bunten Kopfbedeckungen und eleganten bis zum Boden reichenden Röcken zu sehen, wie sie mit Freundinnen in Cafés sitzen und Zigaretten rauchen. Sie gehen auch in gemischten Gruppen mit Mädchen, ohne Kopfbedeckung und in engen Jeans und T-Shirts. Das scheint dort kein Problem zu sein.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, von der Redaktion gekürzt