Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 12. Juni 2006, Heft 12

Weltanschauungsmord

von Hermann-Peter Eberlein

Der Mord geschah vor genau siebzig Jahren. Er war nicht die Tat eines Nazis; aber sie gehört in ein faschistoides Milieu, das von Irrationalismus und ängstlicher Rückbesinnung auf Religion und überlieferte Werte genauso geprägt ist wie von Antisemitismus und Neid. Eben diese Mischung macht die Erinnerung an Moritz Schlick und sein gewaltsames Ende aktuell.
Moritz Schlick war der Begründer des Wiener Kreises. Am 14. April 1882 in Berlin geboren, studierte er Physik in Heidelberg, Lausanne und in seiner Vaterstadt und promovierte 1904 bei Max Planck. Ab 1907 studierte er dann noch in Zürich Psychologie; 1911 habilitierte er sich in Rostock. Dort wurde er im Kriegsjahr 1917 Professor, vier Jahre später in Kiel; im Jahr 1922 schließlich wurde er auf den Lehrstuhl für Philosophie der induktiven Wissenschaften der Wiener Universität berufen, wo er mit Ausnahme eines Auslandsjahres in Berkley (1931–1932) bis zu seinem Tode lehrte.
Die eigentümliche Bezeichnung von Schlicks Lehrstuhl entsprach durchaus seinem Selbstverständnis: Das Verhältnis zwischen Philosophie und Naturwissenschaften hat Schlick zeitlebens interessiert, mit Männern wie Max Born und Albert Einstein stand er in regem Austausch, und schon ab 1915 hat er des Letzteren Relativitätstheorie philosophisch interpretiert. In seinem ersten Hauptwerk, der Allgemeinen Erkenntnislehre von 1918, vertrat Schlick einen konsequenten erkenntnistheoretischen Empirismus und Realismus.
Der 1924 aus einem seiner Seminare hervorgegangene neopositivistische Wiener Kreis trat 1929 mit der Programmschrift Wissenschaftliche Weltanschauung hervor und besaß seit 1930 mit der Zeitschrift Erkenntnis ein eigenes Publikationsorgan. Für einige Jahre bildete dieser Kreis mit Rudolf Carnap, Otto Neurath, Herbert Feigl, Viktor Kraft und zeitweise auch Karl Popper eine philosophische Avantgarde, die, frei von hergebrachter Metaphysik und anknüpfend an Arbeiten von Ernst Mach, Gottlob Frege, Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein, die Philosophie mit Hilfe der formalen Logik und Sprachanalyse auf eine neue Grundlage stellte.
Konsequent wies Schlick darum in seinen Fragen der Ethik von 1930 auch jegliche absoluten moralischen Werte zurück und behandelte seine Aufgabe als Teil der beschreibenden Psychologie: Moralische Forderungen seien nicht mehr als »Durchschnittswünsche der Allgemeinheit« und gingen »auf Lust- und Unlustgefühle« der Individuen zurück – gut sei, was »von der Gesellschaft gebilligt wird«.
Diese analytisch-positivistische Zugangsweise wurde bereits von Zeitgenossen als Zerrüttung aller geistig-moralischen Werte und »typisch jüdisch« angesehen. Und so bekommt die Erschießung des Nichtjuden Schlick, begangen am 22. Juni 1936 auf der Hauptstiege der Wiener Universität durch seinen ehemaligen Studenten Hans Nelböck, trotz wirrer teils persönlicher Gründe – der Affäre um eine Studentin und der fehlgeschlagenen Bewerbung um eine Lehrerstelle – eine politisch-ideologische Dimension.
»Der Beschuldigte, der von Natur aus religiös eingestellt ist«, so denn auch die Anklageschrift, »hat die wissenschaftliche Bekämpfung des von Professor Schlick vertretenen Positivismus, beziehungsweise den destruktiven Tendenzen des atheistischen Positivismus entgegenzuarbeiten, für unerläßlich erachtet.« Damit wird der schizoide Psychopath Nelböck zum Exekutor einer weitverbreiteten dumpf-konservativen, antiintellektuellen und antisemitischen Stimmung, die in formaler Logik und Mathematik, Sprachwissenschaft und Positivismus einen Angriff auf alle Grundlagen der Gemeinschaft und im Juden den geborenen Vertreter dieser destruktiven Tendenzen erblickt.
Daß Schlick jüdische Assistentinnen und viele jüdische Freunde hatte, kam da eben recht, um ihn als »Abgott der jüdischen Kreise Wiens« nachgerade zu denunzieren. Immerhin: Es ist das Österreich der Vaterländischen Front, der christliche Ständestaat Kurt Schuschniggs, in dem der Philosoph Johann Sauter den Mord an Schlick wenige Wochen nach der Tat zum Anlaß nehmen kann, endlich »eine wirklich befriedigende Lösung der Judenfrage« anzumahnen. Zwei Jahre später, mit dem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich, wird der Wiener Kreis endgültig in alle Welt zersprengt.
Werte stehen auch heute wieder hoch im Kurs: die abendländischen, die christlichen, die der westlichen Zivilisation – die Frage nach ihrer Begründung spielt weniger eine Rolle. So sollen es wieder einmal die Kirchen richten mit der Werteerziehung. Doch die normativen Ethiken von Offenbarungsreligionen taugen nicht als Maßstäbe einer multireligiösen Gesellschaft in einem religionsneutralen Staat. Es braucht andere, rationale, über kulturelle Grenzen hinweg vermittelbare Regeln.
Was aber, wenn sich solche Werte eben nicht anders als positivistisch plausibel begründen ließen? Wenn Schlick und seine Mitstreiter recht hätten? Wer freilich so fragt, hat keinen guten Stand in einer Gesellschaft, die in den Kellern ihrer multikulturellen und sich rapide sozial spaltenden Gegenwart hektisch wieder nach festen Fundamenten sucht. Noch sind wir nicht soweit wie vor siebzig Jahren. Aber die Empfänglichkeit für irrationale Strömungen und die Sehnsucht nach der Geborgenheit in einer heimeligen moral majority steigen rapide. Die damit verbundene Ausgrenzung von kritischen Geistern auch.