von Klaus Hart, São Paulo
Wer den brasilianischen Architekten Paulo Mendes da Rocha derzeit in seinem Büro der lateinamerikanischen Wirtschafts- und Kulturmetropole São Paulo besucht, erlebt ihn euphorisch, zum Feiern aufgelegt – die Flasche mit dem guten Whisky und die Gläser stehen griffbereit. Denn Rocha, der in Europa so gut wie unbekannt war, hat überraschend den Pritzker-Prize von der Hyatt-Stiftung in den USA erhalten, der als Nobelpreis der Architektur gilt. Er ist mit 100000 Dollar dotiert und wurde Ende Mai in Istanbul dem 78jährigen für sein Lebenswerk verliehen.
Dieser Pritzker-Prize ging sozusagen an einen Warner aus der Betonwüste, der Brasiliens Städte »auf einem hochgefährlichen Weg in den Abgrund« sieht. Paulo Mendes da Rocha schmerzt, mit ansehen zu müssen, wie das einstmals außergewöhnlich schöne São Paulo, heute die drittgrößte Stadt der Welt, seit etwa 1950 in ein häßliches Betonmeer verwandelt wurde und bis heute von einer engstirnigen Elite Grundregeln humaner Stadtgestaltung bewußt mißachtet werden. Vor Rocha hatte 1988 als erster Brasilianer Oscar Niemeyer aus Rio den Pritzker-Prize erhalten. Niemeyer versteht sich als Kommunist, Rocha ebenfalls.
Plötzlich schaut die Welt wieder auf Brasiliens Architektur, interessieren sich Europas Stadtgestalter wieder für die Arbeit ihrer brasilianischen Kollegen. Über diesen Nebeneffekt freut sich Paulo Mendes da Rocha am meisten. In einem von erschreckenden Sozialkontrasten geprägten Drittweltland haben er und sein Vorbild Oscar Niemeyer indessen mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Entsprechend radikal sind die Vorschläge für eine Humanisierung der brasilianischen Städte. In Brasilia oder São Paulo findet man vor allem gutbewachte Wohnghettos der Mittel- und Oberschicht sowie riesige, rasch wachsende Slums: Apartheid social, Apartheid nach sozialen Kriterien, wie auch Rocha beklagt. Oscar Niemeyer von der Copacabana ist entsetzt über die bauliche Verschandelung Rio de Janeiros. In der Megametropole São Paulo, so meint er, ließen sich die Lebensbedingungen nur verbessern, wenn man ganze Stadtviertel abrisse und statt ihrer Parks und Gärten anlegte.
Rocha nennt Rio de Janeiro heute ebenso entsetzlich wie São Paulo. »Diese Planlosigkeit, diese Zerstörung des Raums ist einfach ein Horror«, sagt er im Interview. Und weiter: »Das zeigt die Armseligkeit des Denkens der Wohlhabenden. Wie die Geier über Aas sind die Immobilienspekulanten über São Paulo hergefallen, haben es in eine Ware verwandelt und jeden Quadratzentimeter verhökert, die Stadt immer mehr verdichtet. Hier blüht das Absurde. Ich leide darunter unglaublich, hier kann man ein enormes Spektrum von Widersprüchen studieren. Die Distanz zwischen den urbanen, architektonischen Möglichkeiten und der abstoßenden Realität ist einfach enorm. All dies hier dient keineswegs den Interessen der Bevölkerung. Vergiftete Flüsse und verpestete Luft durch die Autos, überall krasse Fehler.« Nicht zufällig nennen die über zwanzig Millionen Bewohner ihre Stadt selber »feio«, häßlich.
Pritzker-Prize-Träger Rocha stammt aus einer Familie erfolgreicher Bauingenieure, wurde in der nordöstlichen Hafenstadt Vitoria geboren. Als Kind sah er, wie sein Großvater und sein Vater in unberührter Tropennatur Brücken und Hafenanlagen errichteten – das reizte ihn, später einmal ebenfalls an solchen Transformationsprozessen teilzunehmen, Nützliches zu schaffen. Statt dessen mußte er hinnehmen, wie in den vergangenen Jahrzehnten Brasiliens Stadtlandschaften immer monotoner, langweiliger wurden. Schlechter architektonischer Geschmack dominiert allenthalben. Während Europas Altstädte oft sorgfältig restauriert wurden, riß man in Brasilien das Alte zumeist rücksichts- und bedenkenlos nieder.
Brasiliens Städte, urteilt der Warner Rocha, könnten unbenutzbar werden. So wird in São Paulo trotz der viel zu engen, mit Autos verstopften Straßen weiterhin ein Hochhaus ans andere geklebt, bleibt kaum Platz für Grün. Architekt Rocha plädiert deshalb für eine radikale, wenngleich utopische Lösung: »Ich würde die Privatautos abschaffen, dafür einen effizienten, komfortablen Nahverkehr installieren, das U-Bahn-Netz entsprechend erweitern. Man kann doch nicht eine Stadt für die Menschen und eine nur fürs Unterstellen der Autos errichten. Die Tiefgaragen der Blocks sind oft größer als die Wohnungen selbst.«
Ebenso wie Oscar Niemeyer, der in São Paulo zahlreiche Gebäude, sogar einen Wohnblock für fünftausend Menschen errichtete, ist auch Paulo Mendes da Rocha in seinem Heimatland umstritten. Denn Rocha ist ein Vertreter des sogenannten brasilianischen »Brutalismo«, Rocha bevorzugt unverkleideten Stahl und rohen Beton – ob bei Museen oder Verwaltungsbauten. São Paulos Präfektur überlegt gar, Rochas letztes Werk, die viel kritisierte Überdachung eines U-Bahn-Eingangs in der City, wieder abzureißen.
Zum Stil der eigenen Bauten äußert sich Rocha indessen nur sehr zurückhaltend, übertrieben bescheiden. Städtebauliche Lösungen habe er nicht anzubieten, lediglich sein Bestes versucht. »Etwas ironisch würde ich sagen: Meine Arbeit ist dadurch charakterisiert, daß ich mich um Dinge sorge, die ich nicht tun darf. Daß mir sehr bewußt ist, was ich aus humanistischen Erwägungen auf jeden Fall unterlassen muß.«
São Paulos Slums, die Favelas, wachsen jährlich um über zehn Prozent – Rocha bewertet diese Provisorien überraschend positiv. »Ich mag die Favelas sehr, sie sind intelligenter Urbanismus. Lobenswert die Courage unseres Volkes, selbst in dieser Form die Stadt mitzubauen. Die Leute sagen, ich warte nicht, bis die Stadt fertig ist, ich kampiere schon daneben. Die Menschen dort haben Selbstvertrauen. Sie manifestieren klar und politisch scharf: Wir wollen hier bleiben, wir wollen Lebensqualität, haben Wünsche, Hoffnungen.«
Wie analysiert Rocha die Stimmungslage im heutigen Brasilien? »Wir verwandeln uns in eine Gesellschaft, die monströs zynisch sowie niedrig, gemein ist, die konformistisch das Desaster der Obdachlosen akzeptiert. Wir haben eine Gesellschaft, die so kolonialistisch wird wie der ursprüngliche Kolonialist. Sie ist ausbeuterisch, ohne jegliches Gefühl des Mitleids und der Solidarität mit dem anderen.«
Die deutsche Hauptstadt Berlin, so urteilt er, sei nach der Rekonstruktion heute schlechter als vor dem Zweiten Weltkrieg. Zur Verblüffung des Interviewers besteht Rocha auf der Existenz großer Slums in Deutschland. »Wer als Brasilianer mit dem Zug etwa von Kassel nach Berlin fährt, ist seit mindestens zehn Jahren erschrocken über die wohl von Türken und anderen Ausländern errichteten Slums direkt an der Bahnlinie …« Befragte Einwohner São Paulos erklären belustigt, daß der Architekt ganz offensichtlich die deutschen Schrebergärten mit ihren Bungalows für Slums hält. Tücken der Wahrnehmung in beiden Richtungen – siehe die zahllosen Brasilienklischees.
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