Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 15. Mai 2006, Heft 10

Zwei Herren B.

von Ove Lieh

Der eine Herr B., nämlich Pierre Bourdieu, sagte 1999: »Der öffentliche Dienst, das öffentliche Transportwesen, die öffentlichen Krankenhäuser, die öffentlichen Schulen usw., all das ist eine ganz außergewöhnliche Kulturleistung, die schwer aufzubauen war. Um die Idee der ›Öffentlichkeit‹ im Gegensatz zur ›Privatheit‹ zu entwickeln, waren Generationen von Philosophen und Juristen notwendig. All das wird liquidiert, und damit hat es sich. Deshalb interveniert die Soziologie. Ich habe in meinem Leben nicht oft den Propheten gespielt, aber ich glaube, daß ich hier ohne großes Risiko Dinge verkünden kann, die ich vielleicht nie selbst erleben werde: Wenn man zuläßt, daß dieser Prozeß der Zerstörung aller kollektiven Strukturen weitergeht – der Familie, der Verbände, des Staates –, wird dies unabsehbare Konsequenzen haben. Es gibt bereits Anzeichen dafür, wie zum Beispiel die Gewalt in den Städten, weil das, was mit einer Hand eingespart, mit der anderen ausgegeben wird. Man setzt Prozesse in Gang, deren Konsequenzen erst nach langer Zeit zu sehen sein werden. Das braucht Zeit, denn bevor das System der Krankenhäuser zusammenbricht, gibt es immer noch hingebungsvolle Krankenschwestern, noch eine Menge Leute, die das System fast gegen seinen Willen retten.« (Pierre Bourdieu: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft. UVK Verlagsgesellschaft. Konstanz 2001, S. 40)
Und Ärzte, möchte man diesem Zitat hinzufügen. Jetzt aber haben sie es satt. Und da kommt der andere Herr B., nämlich Gewerkschaftsboß Herr Bsirske daher und tönt: »Warum die Ärzte nach Sechzig-Stunden-Schichten inklusive Bereitschaftsdienst weniger müde sein sollen, wenn sie dreißig Prozent mehr Gehalt kriegen, das verstehen viele nicht.« Ich hoffe nur, Herr B. hat auch diese »vielen« gefragt, was sie verstehen und was nicht. Ich verstehe nicht, warum Herr B. einen solchen Zusammenhang konstruiert, den meines Wissens keiner der Betroffenen herstellen würde, denn sie haben ja nicht den Humor eines Gewerkschaftsführers, der nicht (mehr?) weiß, daß man, wenn man sich denn auslaugen lassen muß bis zum Anschlag, sich schon ein wenig mit dem Blick aufs Konto trösten kann.
Mich jedenfalls (ich bin weder Arzt noch Krankenschwester, habe aber die Folgen der sogenannten Gesundheitspolitik beruflich mit auszuhalten) würde etwas mehr Gehalt schon sehr motivieren. Aber Herr Bsirske will ja vielleicht den Arbeitgebern der Mediziner den Tip geben, daß sie auch nicht müder werden, wenn man ihnen noch etwas weniger zahlt, was man sicher mit »Importdoktoren« heute schon praktiziert. Wenn man den Ärzten überhaupt einen Vorwurf machen kann, dann den, daß sie sich viel zu lange viel zu viel haben gefallen lassen. Sechzig Stunden ununterbrochen arbeiten! Überstunden ohne Ende und ohne gerechte Bezahlung, womit sie sich in der Gesellschaft sehr vieler Arbeitnehmer befinden, Herr Gewerkschafter! Und dazu fortwährend die Prügelknaben der Nation, die sich mit ihrem Ethos erpressen lassen von Leuten, die kein vergleichbares Ethos auch nur im Ansatz praktizieren. Wenn Ärzte so therapieren würden wie Politiker reformieren, wären sie längst alle wegen fahrlässiger oder vorsätzlicher Körperverletzung, zumindest aber wegen unterlassener Hilfeleistung dran. Und Sie, Damen und Herren Gewerkschafter, gleich mit.
Was da zum Beispiel an Gesetzen verabschiedet wird, die Beispiele entnehmen Sie bitte der Tagespresse, ich verweise hier nur explizit auf die Thüringer Familienoffensive, ist nicht selten schlicht Verrat am Nachbarn. Und das, liebe Nachbarn, sollten wir uns nicht länger gefallen lassen!