Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 15. Mai 2006, Heft 10

Nach der Wahl

von Uli Brockmeyer, z. Z. Budapest

Als vor vier Jahren die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) und der mit ihr verbündete liberale Bund Freier Demokraten (SZDSZ) aus beiden Runden der Parlamentswahlen als Sieger hervorgingen, war der abgewählte Premier Viktor Orbán zunächst sprachlos, und Stunden später verlangte er lautstark eine Neuauszählung der Stimmen. Zur Bekräftigung seiner Forderung mobilisierte er im ganzen Land sogenannte Bürgerkreise, die gleichzeitig als eine Art Kampfreserve für seinen nationalkonservativen Bund Junger Demokraten (Fidesz) gedacht waren. Noch mehrere Wochen lang kampierten enttäuschte Orbán-Anhänger in Zelten vor dem Parlament in Budapest, bis sie schließlich einsehen mußten, daß keine Wahlfälschung vorlag.
Vor der zweiten Wahlrunde rechneten nicht wenige Beobachter mit einer ähnlichen Reaktion der Wahlverlierer. Aber diesmal kam alles anders. Bereits wenige Minuten nach 21 Uhr berichtete der MSZP-Vorsitzende István Hiller den vor der Parteizentrale der Sozialdemokraten wartenden Anhängern, Viktor Orbán habe der Partei soeben telefonisch zu ihrem Sieg gratuliert.
Zu eindeutig waren diesmal die Ergebnisse. Allein die MSZP konnte 186 der 386 Mandate gewinnen, die konkurrierende Fidesz-Bürgerunion brachte es lediglich auf insgesamt 164 Mandate aus beiden Wahlgängen. Der liberale Koalitionspartner der Sozialdemokraten fuhr noch achtzehn weitere Mandate ein, und zusätzlich kommen sechs Abgeordnete ins Parlament, die auf gemeinsamen MSZP-SZDSZ-Listen kandidiert hatten. Selbst ein Überraschungssieger, ein unabhängiger Kandidat aus dem südwestlichen Komitat Somogy, steht eher den Sozialisten nahe.
Ebenfalls überraschend erhielt das christdemokratisch orientierte Ungarische Demokratische Forum (MDF) insgesamt elf Sitze im neuen Parlament. Das MDF war bei den vorhergegangenen Wahlen noch gemeinsam mit dem Fidesz in den Wahlkampf gegangen, mußte allerdings dann erleben, daß der eloquente Fidesz-Führer Orbán nicht nur der Partei, sondern vor allem einzelnen Abgeordneten immer stärkere Avancen machte, zum Fidesz überzulaufen. Zuvor hatten die Konservativen bereits einige andere kleine Parteien und Gruppierungen der rechten Seite vereinnahmt oder zumindest aufgerieben.
Die charismatische MDF-Vorsitzende Ibolya Dávid, im Kabinett Orbán (1998–2002) Justizministerin, wies jedoch alle weiteren Versuche der Vereinnahmung zurück und beharrte auf politischer und organisatorischer Eigenständigkeit ihrer Partei. Nicht zuletzt deshalb landet sie in Popularitätsumfragen seit Jahren fast immer auf Platz zwei hinter dem ungarischen Präsidenten.
Auch bei diesen Wahlen hatte Ibolya Dávid deutlich gemacht, daß sie nicht als Juniorpartnerin einer anderen Partei ins Parlament einziehen werde. Immerhin war es das MDF, das bei den ersten Wahlen nach dem Systemwechsel vor sechzehn Jahren stärkste Partei geworden war, allerdings damals noch als eine Sammlungsbewegung konservativer Kräfte, deren einziger wirklicher Programmpunkt in einer Antihaltung gegenüber Sozialisten und Kommunisten bestanden hatte. Als solche hat das MDF seinerzeit zwar kläglich versagt, Ibolya Dávid hat es jedoch vermocht, aus dem Forum eine Partei nach dem Muster der westeuropäischen Christdemokraten zu formen.
Der wirkliche Überraschungssieger von Budapest jedoch heißt Ferenc Gyurcsány. Unter seiner Führung ist es einer ungarischen Regierungskoalition erstmals seit sechzehn Jahren gelungen, eine zweite Legislaturperiode zu gewinnen. Dabei stand Gyurcsány bei den Wahlkämpfen vor vier Jahren trotz seiner Körpergröße eher unscheinbar in der zweiten oder dritten Reihe hinter dem damaligen (parteilosen) Spitzenkandidaten Péter Medgyessy.
In der Wendezeit noch einer der führenden Funktionäre des Demokratischen Jugendverbandes DEMISZ, hatte er damals die Zeichen der Zeit für sich erkannt und die Gelegenheit beim Schopfe ergriffen, bei den Verkäufen von Volkseigentum kräftig mitzumischen und privat abzusahnen. Durch verschiedene Geschäfte, deren Redlichkeit zwar von der Opposition angezweifelt, aber juristisch nicht bestritten werden konnte, schuf er sich ein Privatvermögen von mehreren Milliarden Forint und gelangte damit in den Klub der Dollarmillionäre.
Unter Medgyessy war er zunächst Minister für Jugend und Sport, und er hatte die richtige Spürnase, als die Sozialdemokraten im Sommer 2004 begannen, am Stuhl des eigenen Premiers zu sägen, trat mit einigen eigenen Gedanken ins Rampenlicht und eroberte den Chefsessel in der Regierung. Damals standen allerdings die Zeichen für die MSZP so ungünstig, daß seine Hauptaufgabe seitdem vor allem darin bestand, den Rückstand der Partei von bis zu zwanzig Prozentpunkten in den Umfragen gegenüber dem Fidesz aufzuholen. Politische Beobachter in Budapest meinen daher, daß er erst jetzt wirklich mit dem Regieren beginnen könne. Ob er dabei ebenfalls erfolgreich sein kann, muß sich erst erweisen.
Ob es Ferenc Gyurcsány gelingt, aus einem hoffnungslos zerstrittenen Wahlvolk eine Nation zu schmieden – eine Aufgabe, an der seine Vorgängern allesamt scheiterten –, ist ebenfalls keineswegs sicher. In der Tradition der bisherigen Amtsinhaber beschwor er am Wahlabend den »Zusammenschluß der Nation und der Farben – ob rot, orange, blau oder grün« (die Farben von MSZP, Fidesz, SZDSZ und MDF), denn jetzt gehe es um »ein lebenswertes Ungarn«. In derselben Tradition sprach er von der »Verantwortung gegenüber 10 Millionen Ungarn und den Interessen von 15 Millionen«. Mit letzteren sind die im Ausland lebenden Angehörigen der ungarischen Minderheiten gemeint, deren Zahl jedoch inzwischen realistisch eher auf drei Millionen geschätzt wird.
Wahlverlierer Orbán versprach in einer ersten Reaktion eine konstruktive Opposition, was angesichts des Staus an notwendigen Reformen und Gesetzesvorlagen durchaus zu begrüßen wäre. MDF-Chefin Dávid stellte am Wahlabend fest, daß die Regierungskoalition trotz einer schwachen Leistung gewonnen habe. Realistische Beobachter stimmen ihr darin zu, denn die tatsächliche Bilanz der Regierung ist nicht berauschend.
Allein die katastrophale Lage des Staatsbudgets zeigt, daß noch viele Hausaufgaben zu erledigen sind. Die Defizite in den Staatsfinanzen und in der Zahlungsbilanz sind erdrückend, die Auslandsverschuldung wächst, während das Vertrauen ausländischer Anleger sinkt, die Landeswährung Forint verlor in den vergangenen Wochen rund fünf Prozent gegenüber dem Euro, und zum Jahresende rechnen Ökonomen mit einem Defizit von acht bis neun Prozent am BIP.
Die EU verlangt von Budapest bis zum September ein Konvergenzprogramm, zumal Ungarn möglichst bald den Euro einführen möchte. Angesichts der voraussichtlich im September anstehenden Kommunalwahlen hat die neue Regierung also etliche harte Nüsse zu knacken.