Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 29. Mai 2006, Heft 11

Fußballdemokratie

von Klaus Hansen

Bei ihrer ersten Weltmeisterschaftsteilnahme nach dem Krieg, 1954 in der Schweiz, sangen die Spieler der deutschen Fußballnationalmannschaft beim Abspielen der Nationalhymne vereinzelt mit. Allerdings nur die erste Strophe, und davon nur die ersten beiden Zeilen. Einer soll, weil er es nicht besser wußte, das Horst-Wessel-Lied angestimmt und sich dabei fast in die Hose gemacht haben. Offenbar war Schlimmeres befürchtet worden, denn man lobte Trainer Herberger dafür, daß sich die Mißtöne in Grenzen hielten.
Bei der Weltmeisterschaft 1974 in der Bundesrepublik sang keiner auch nur einen Ton mit. Statt dessen kauten die Nationalspieler der Bundesrepublik beim Abspielen der Nationalhymne Kaugummi. Man lobte Trainer Schön dafür, daß ein Bild unbekümmerter Lässigkeit verbreitet und dem neuen Image des Swinging Germany eine weitere Facette hinzugefügt wurde. Auch bei der Weltmeisterschaft 1982 in Spanien regte sich beim Abspielen der Nationalhymne keine Miene. Es wurde weder mitgesungen noch Kaugummi gekaut. Man lobte Trainer Derwall dafür, daß er die unwürdige und an glupschäugiges Weidevieh erinnernde Kaugummimalmerei verboten und den Spielern ein ernstes, ja grimmiges Gesicht verordnet hatte.
Auf dem Wege zur Weltmeisterschaft 1986 in Mexiko erlebten wir daheim an den Bildschirmen, wie unsere Jungs ohne Rücksicht auf musikalisches Talent die dritte Strophe aus vollem Halse schmetterten. Man lobte Teamchef Beckenbauer dafür, daß die Nationalelf nun für alle ein Vorbild sei. Auch Italien-Legionär Rummenigge, Kapitän der deutschen Elf, bekannte sich zum neuen Patriotismus: »Der Sport, sag ich mal einfach so, ist nicht das einzigste, was man hat. Es gibt ja auch noch so was wie das Vaterland, wo man eine echte Zugehörigkeit spürt.«
Bei der Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft 1994 in der Dritten Welt des Fußballs, in den USA also, traten im ehedem so vorbildlichen Chorgesang unserer Nationalspieler erneut Mißtöne auf. Deutschland war über Nacht neuvereinigt worden. Die Spieler aus dem »Beitrittsgebiet«, wie nun plötzlich die DDR hieß, mochten von ihrem »Auferstanden aus Ruinen« nicht lassen, während ihre westdeutschen Kollegen den inzwischen gewachsenen Überdruß an der dritten Strophe dadurch zum Ausdruck brachten, daß man eigenmächtig Umdichtungen vornahm. So ist Kapitän Matthäus wiederholt dabei ertappt worden, wie er mit fränkischer Inbrunst die Worte »Einigkeit und recht viel Freizeit« ins weite Stadionrund hinausposaunte.
»Damit die Richtung wieder stimmt«, wie er sich ausdrückte, gab Bundestrainer Hans-Hubert Vogts dem namhaften österreichischen Schnulzisten Udo J. Gockelmann den Auftrag, ein neues Lied zu schaffen, das herkömmlichen Nationalstolz und zeitgenössische Geldgeberbedürfnisse auf harmonische Weise miteinander verbindet. Komponist Gockelmann löste die Aufgabe, indem er Joseph Haydns alte Melodie beibehielt, den Text des Mannes aus Fallersleben jedoch radikal entkernte und in ein hymnisches Sponsoren-Who-is-Who verwandelte.
Seitdem erhebt man sich in deutschen Landen zur Deutschen Kommerzialhymne:

Adidas und Zeiß und Pfanni
Für das deutsche Fußballspiel.
Daimler läßt uns alle strahlen,
BIT-Bier macht das Hirn mobil.
Adidas und Zeiß und Pfanni
Und Langnese-Eis am Stiel:
Müller-Milch, Aral und Grundig –
Blühe deutsches Fußballspiel!

Nun, endlich, lobte man Trainer Vogts dafür, die Zeichen der Zeit erkannt zu haben.

Aus: Klaus Hansen: »die eins muß stehen – satirische fußballminiaturen«, Albert Verleysdonk Verlag Mönchengladbach 2006, 12,90 Euro