von Jochen Reinert
Die hundertjährige Iris Wedin lacht. »Na klar, ich bin wieder dabei – auch wenn das ›rote Ådalen‹ etwas blasser geworden ist in den letzten Jahren«. Damit meinte die Frau aus dem kleinen Industrieort Bollstabruk rund fünfhundert Kilometer nördlich von Stockholm das Gedenken für die fünf Arbeiter aus der traditionsreichen Industrielandschaft, die hier am Himmelfahrtstag vor 75 Jahren erschossen wurden. Iris Wedin war damals ebenso wie ihr Mann August, ein Sägewerksarbeiter, mit dabei und wird nie vergessen, wie die Toten und Verletzten an ihr vorübergetragen wurden.
An jenem Tag wollten aus Protest gegen die Ankunft von Streikbrechern siebentausend Arbeiter vom Volkshaus des Ortes Lunde hinunter zum Hafen marschieren. Doch eine Militäreinheit eröffnete das Feuer. Geistesgegenwärtig blies ein junger Trompeter aus dem Demonstrationszug das militärische Signal Feuer beenden. Damit wurde Schlimmeres verhindert; aber auf der Erde Ådalens lagen vier tote Demonstranten: Erik Bergström (31), Evert Nygren (22), Sture Larsson (19), Viktor Eriksson (35) und die 21jährige Eira Söderberg, die sich aus Sorge um Vater und Bruder ebenfalls auf den Weg gemacht hatte.
Nur zwei weitere Male kam es in Schwedens Geschichte des 20. Jahrhunderts zu politisch motivierten Gewalttaten mit Todesopfern: 1908 in Malmö, als der Anarcho-Sozialist Anton Nilson mit zwei Freunden das Streikbrecherschiff Amalthea in die Luft sprengte und dabei unbeabsichtigt einen Briten tötete. Und 1940 in Luleå beim Attentat Rechtsradikaler auf die Redaktion der KP-Zeitung Norrskensflamman, das fünf Menschen das Leben kostete.
1931 war in Schweden die Weltwirtschaftskrise voll durchgeschlagen. Die bürgerlichen Eliten sahen die Zeit für gekommen, die Arbeiterbewegung – die Gewerkschaften hatten zwischen 1915 und 1930 ihre Mitgliederzahl verfünffacht – zur Räson zu bringen. Die Unternehmer begannen, Lohnsenkungen durchzusetzen, und begegneten dem aufflammenden Widerstand mit Streikbrecherkommandos. In diesem Umfeld bildete sich auch ein faschistoides Freikorps unter General Munck, das unter anderem vom Liebknechtmörder Pflugk-Hartung, der Asyl in Schweden erhalten hatte, mit Waffen versorgt wurde.
Die schwedische Arbeiterbewegung jener Tage war stark gespalten. Am linken Rand ihrer traditionellen Flügel, der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SAP) und den Gewerkschaften, hatte sich bereits im Mai 1917 die Sozialdemokratische Linkspartei Schwedens gebildet, die alsbald als Kommunistische Partei firmierte. Viel Neues darüber und die intensiven Verbindungen der schwedischen Sozialdemokratie Richtung Osten hat jüngst der russische Historiker Aleksander Kan, der seit den achtziger Jahren in Uppsala lehrt, in seinem Werk Hemmabolsjevikerna (Die einheimischen Bolschewiken) ausgebreitet. Die neue Linkspartei brachte es in den zwanziger Jahren gleich auf drei Spaltungen. Zur Zeit der Ådalenereignisse gab es de facto zwei KPs, die nach ihren Führungsfiguren Sillén- beziehungsweise Kilbomkommunisten genannt wurden.
In Ådalen war die Lage im Frühjahr 1931 noch dramatischer als in anderen Teilen Schwedens. Fast die Hälfte aller Arbeiter der vielen Sägewerke und Zellulosefabriken des Reviers waren ohne Job, soziale Unterstützungen gab es nicht. Der Unternehmerverband SAF schickte ein von Soldaten flankiertes Streikbrecherkommando, um ein Exempel zu statuieren. Der zuständige Landshövding Karl Stenström, der Böses ahnte, appellierte an Premier Ekman von den Liberalen, den SAF-Chef Hjalmar von Sydow zu überzeugen, die Streikbrecher zurückzurufen. Doch der allmächtige von Sydow sagte Nej. Von seinem Vize Larsson ist der Satz überliefert: »Geschehe, was auch immer geschehen mag.«
Als die vier Arbeiter und Eira Söderberg – drei von ihnen KP-Mitglieder – in ihrem Blut lagen, erhob sich in ganz Schweden ein Proteststurm ohnegleichen. In Stockholm versammelten sich 150000 Menschen – die größte Kundgebung, die Schwedens Hauptstadt je sah. In Ådalen selbst, wo sogleich ein Generalstreik verkündet wurde, übernahmen die Gewerkschaften für zwölf Tage das Sagen. Zum Begräbnis der Opfer versammelten sich über 25000 Menschen. In ganz Schweden ruhte um zwölf Uhr mittags jegliche Arbeit und sämtlicher Verkehr. Doch den schießwütigen Militärs geschah praktisch nichts; aber drei der Streikführer wurden hinter Gitter geschickt.
»Die Ådalenereignisse waren ein Wendepunkt in der schwedischen Politik überhaupt«, urteilte der linke Politiker Fritjof Lager, der 25 Jahre danach mit einer ersten umfassenden Analyse der Ereignisse hervortrat. Die reaktionäre Offensive war zum Stehen gebracht worden, die Streikbrecherkommandos und das Munck’sche Korps wurden aufgelöst, das innenpolitische Kräfteverhältnis änderte sich erheblich. Die SAP erreichte mit einem neuen wirtschaftlichen und politischen Programm – de facto die Geburtsurkunde des schwedischen Wohlfahrtsstaates – bei den Wahlen von 1932 einen Erdrutschsieg. Die Ankündigung von Krisenhilfen für Arbeiter und kleine Landwirte und einer Arbeitslosenversicherung bei gleichzeitiger Erhöhung der Erbschaftssteuer und Kürzung des Militärbudgets, brachten der SAP 42 Prozent der Stimmen. Der SAP-Vorsitzende Per Albin Hansson begann das Bild des »Volksheimes« zu malen – das »schwedische Modell« war geboren. Die Unternehmer hatten ihrerseits die Zeichen der Zeit begriffen, gingen zu subtileren Ausbeutungsformen über und setzten auf Kompromisse, wobei ihnen die SAP-Führung meist entgegenkam.
Heute erhebt sich am Kai von Lunde ein großes Bronzedenkmal, das 1981 – fünfzig Jahre nach dem Mord – mit einer großen Kundgebung vom SAP-Vorsitzenden Olof Palme eingeweiht wurde. Während die Linkspartei damals ein eigenes Meeting mit ihrem Chef Lars Werner arrangierte, sah das beim siebzigjährigen Gedenken anders aus. Da gedachten Sozialdemokraten und Linke erstmals gemeinsam – ganz im Zeichen der 1999 eingeleiteten politischen Kooperation beider Parteien im Reichstag.
Doch diesmal war es – sehr zum Mißvergnügen der hundertjährigen Iris Wedin – wieder wie in alten Konfrontationszeiten. »Schreib ruhig auf, daß das dumm ist, daß die Linkspartei nicht dabei sein darf«, sagte sie einer Reporterin von Dagens Nyheter. Die Veranstalter des Gedenkens 75 Jahre nach Ådalen, SAP und Gewerkschaften, hatten die Linkspartei kurzerhand ausgeladen. Offenbar wollten die Sozialdemokraten wenige Wochen vor den Reichstagswahlen trotz aller parlamentarischer Kooperation auch hier auf Abgrenzung setzen. Ein anderer möglicher Grund der Ausladung: Obwohl seit den Schüssen von Ådalen Militäreinsätze im Inneren verboten waren, signalisierte die SAP-Regierung zu Beginn dieses Jahres, dieses Tabu zugunsten effektiverer »Terrorismusbekämpfung« brechen zu wollen. Diese Pläne würden »eine allzu deutliche Parallele zu den Ereignissen in Ådalen aufweisen«, und die Sozialdemokraten wollten sich dies am historischen Ort von der Linkspartei offenbar nicht aufs Butterbrot schmieren lassen, glaubt deren Sprecherin Anki Ahlsten.
Doch auch die Nähe zu Ådalen rührte das Kabinett Persson nicht: Vier Tage vor der Gedenkfeier in Lunde, zu der am 14. Mai viertausend Menschen kamen, brach sie – gegen den Widerstand von Linkspartei und Grünen, aber mit Unterstützung aus dem bürgerlichen Lager – den seit 1931 bestehenden gesellschaftlichen Konsens in Sachen Militäreinsatz im Inneren.
Schlagwörter: Jochen Reinert