Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 2. Mai 2006, Heft 9

Binnennachfrage

von Ove Lieh

In Deutschland lahmt die Binnennachfrage. Nach dem Bauwesen, dem Handel und dem Gastgewerbe ist nun eine weitere Branche in den Sog dieses Phänomens geraten: die Politik. Obwohl die Politiker es anpreisen wie die Marktschreier und vor keinem Werbegag oder -betrug, ganz wie Sie wollen, zurückschrecken, wollen immer weniger Leute dieses Produkt haben. Woran liegt das nur? Ist etwas mit dem Produkt nicht in Ordnung? Oder liegt es an der stark eingeschränkten Garantie für politische Erzeugnisse? Wohl niemand wird eine Reform nennen können, für die es mindestens zwei Jahre Garantie gibt! Oder sind es gar die allgemeinen Geschäftsbedingungen des Lieferanten, die die Kaufzurückhaltung befördern? Denn man muß – im Unterschied zu anderen Produkten – in der Politik auch dann bezahlen, wenn niemand mehr etwas abkauft, und zwar manchmal sehr teuer. Man gewinnt also nichts, wenn man sich verweigert. Interessanterweise läuft der Export von Politik noch ganz gut, es heißt ja sogar, Frau Merkel habe allerorten, wo sie auftrat im Ausland, eine gute Figur gemacht. Das erinnert mich an Leute, die von ihren Kindern sagen: Na, Hauptsache, sie benehmen sich in der Fremde! Zu Hause kann man dann schon mal ein Auge zudrücken.
Aber warum klappt zu Hause nicht, was woanders geht?
Vielleicht, weil die Leute glauben, daß das angepriesene Produkt nicht funktioniert. Niemand kauft eine Waschmaschine, die nicht wäscht, ein Auto, das nicht fährt, oder einen Fernseher, in dem kein (Scheiß-) Programm läuft. Keiner wählt eine Reform, die nichts bessert, aber vieles schlechter macht. Immer weniger Leute glauben nämlich daran, daß Politik zum versprochenen Ergebnis führt. Ja, sie zweifeln, daß überhaupt die versprochene Politik gemacht wird. Was sie von den Politikern halten, nämlich, daß die zuerst nur an sich denken, verstärkt den Hang zur Politikabstinenz. Das ist keine Frage der Geduld, wie Oberlehrer Thierse meint, sondern der Erfahrung. Der war wohl zu lange an der Akademie der Wissenschaften der DDR und mußte dort auch als Parteiloser an den Parteiversammlungen teilnehmen, deren Einwirkungen sich jetzt auswirken. Wer nicht gewählt hat, habe das Recht auf Kritik verloren und gefälligst die Klappe zu halten, meint er. Dem Rest will er geduldig erläutern, warum alles noch ganz lange dauern wird. Wer allerdings mehr Geduld braucht, wenn einer allen Ernstes davon faselt, daß es keine Patentlösung dafür gibt, zum Beispiel die Arbeitslosigkeit im Osten auf Null zu fahren, wäre noch die Frage. Als ob das jemand, der in PolÖkKap (Politische Ökonomie des Kapitalismus) wenigstens stundenweise wach war, ernsthaft erwarten würde! Könnte es nicht sein, Herr Thierse, daß Ihr Befund: »Nach 15 Jahren Demokratie herrscht hier schon so viel Desinteresse, Enttäuschung und Ratlosigkeit« nicht nur mit dem Zustand der Leute, sondern auch dem der Demokratie zu erklären wäre. Für diesen aber sind auch Sie führend verantwortlich. Bevor Sie also geduldig erläutern, sollten sie tiefgründig und kritisch darüber nachdenken, was wirklich vorgeht, insbesondere wirtschaftlich und politisch. Machen Sie das nicht öffentlich, sonst müssen Sie zu viel Rücksichten nehmen, besonders auf Ihre Mitpolitiker, denn man will (muß) wieder nominiert und gewählt werden. Auf Ihr Ergebnis sind wir allerdings gespannt.
Hinter der Formel vom geduldigen Erläutern steckt aber wahrscheinlich in Wirklichkeit die Auffassung, daß die Leute (der »Urnenpöbel« – wie Georg Schramm neulich meinte) eigentlich von Politik nichts verstehen. Die Deutungs- und Verständnishoheit haben allein die Politiker. Leider konnte man an dem Zeitungsinterview (Thüringer Allgemeine, 28. März 2006) nicht erkennen, ob Herrn T. Tränen der Rührung über den eigenen demokratischen Edelmut in die Augen traten, als er dennoch mehr direkte Demokratie forderte, und solche der Vorfreude, als er die Verlängerung der Legislaturperiode anregte. Ja, wer gerade aus einem Amt ein wenig nach unten gefallen ist, der bekommt eine Vorahnung davon, daß man ihn vielleicht eines Tages nicht mehr gebrauchen kann. Und daß ihn die Akademie der Wissenschaften der DDR wieder nehmen würde, darf bezweifelt werden, ganz besonders, wenn diese Akademie wieder existierte. Welcher seiner beiden Vorschläge übrigens mehr Chancen auf Realisierung hat, dürfen Sie raten. Klar ist, daß auch er, wie alle anderen Produzenten von Politik, nicht für sein Produkt haftet und keine Garantie übernimmt. Ja sicher, man kann abgewählt werden, aber schauen Sie mal, wer gerade wieder gewählt wurde. Genau diejenigen, deren Produkt schon seit Jahren nicht funktioniert. Versager plus Versager soll Gewinner ergeben. Offensichtlich glaubt die Wählerschaft immer noch, daß ein Team von Eunuchen einen Mann ersetzt.
Aber, und das ist beruhigend, es werden weniger, die das glauben. Man kann nur hoffen, daß für die Demokratie eventuell gerade dadurch wieder Chancen erwachsen, sich zu entwickeln und für die Leute wieder interessant zu werden. So, wie sie ist, ist sie zwar besser als keine Demokratie, muß deshalb aber nicht unbedingt bleiben, wie sie ist. Überläßt man sie aber den Politikern und den tonangebenden Medien, werden Desinteresse, Enttäuschung und Ratlosigkeit so schnell nicht weichen.