Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 29. Mai 2006, Heft 11

Azzurro

von Martin Nicklaus

Im Oktober 2002 umwandelten wir andächtig unter strahlend blauem Himmel die Shwedagon-Pagode im Herzen Yangons. Irgendwie mündete unser Gesprächsfluß über die Assoziationskette Shwedagon – Buddhismus – Deisler ins Thema Fußball. Sofort brach es aus unserem burmesischen Begleiter heraus. Feierlichkeit in der Stimme, gratuliert er mir zur Vizeweltmeisterschaft.
Gerührt und ob der Erhabenheit von Ort und Situation beeindruckt, verzichtete ich auf den mir in diesem Moment unpassend erscheinenden Hinweis, gar nicht selber gespielt zu haben. Wahrscheinlich wäre das auch egal gewesen, da in Myanmar Fußball eine nationale Angelegenheit darstellt. Das verwundert um so mehr, als der letzte Erfolg der Nationalelf, noch unter den Namen Burma, auf das Jahr 1970 fiel. Damals wurde sie gemeinsam mit Südkorea Asienmeister. Das Endspiel endete 0:0, und nun bleibt die Frage offen, ob aufgrund fernöstlicher Weisheit beide Teams zum Sieger erklärt wurden oder weil der Veranstalter der Meinung war, die könnten noch hundert Jahre spielen, ohne ein Tor zu schießen.
Die Beliebtheit von Fußball nutzte ein gewitzter Diktator. Für eine seiner ausgedehnten Reden wurden Lifeübertragungen wichtiger Spiele einfach unterbrochen. So verharrte das Publikum gebannt vor den Geräten, bis dann nach etlichen Stunden endlich das Spiel weitergesendet werden konnte.
Bei uns galt noch 1974 beim Sieg über die Niederlande Fußball als »schönste Nebensache der Welt«, und nur Müller, Meier, Beckenbauer sangen: »Fußball ist unser Leben, denn König Fußball regiert die Welt.« Inzwischen wurde Beckenbauer blaublütig zum Kaiser Franz, und Fußball regiert für ein paar Monate tatsächlich die Welt. Kein Wunder, wenn sich Köhler Hans per Weihnachtsansprache und Köhlerliesel zum Neujahr einschalten und die Erringung des Weltmeistertitels erwarten. Sogar eine Vorladung ins Kanzleramt erging an die für Fußball Verantwortlichen.
Manni Breuckmann, sich von Präsident und Kanzlerin durch Sachkenntnis unterscheidend, fehlt jede Blauäugigkeit, und er erklärt, wir werden nicht Weltmeister. Günther Netzer folgt ihm, drückt sich nur ein bißchen gewandter aus. Zu offensichtlich führt der Plan des studierten Wirtschaftsfachmanns und Nichttrainers Klinsmann, den ein sonderbares Auswahlverfahren des DFB ins Amt spülte, in die Chancenlosigkeit. Sein Angriffsfußballkonzept scheitert an den Fähigkeiten der Spieler und ist über dies auch unsinnig.
Eine Analyse der Spielweise europäischer Spitzenclubs oder der letzten beiden großen Turniere hätte gezeigt, welche Bedeutung die Verteidigung hat, insbesondere bei starker Limitierung sonstiger Möglichkeiten. Griechenland wurde 2004 mit einer doppelten Viererabwehrreihe und zwei davor spielenden Liberos Europameister. Deutschland kam 2002 ins Endspiel, weil sie nur ein Gegentor zuließen. Oliver im Kahn trug einen erheblichen Anteil daran. Ihn diesmal auszusortieren, stellt einen weiteren großen Klinsmannschen Wurf dar, denn wenn die Abwehr schon keinen Chef hat und unkoordiniert über den Platz irrt, darf auf keinen Fall eine Spielerpersönlichkeit das Tor hüten, die für Ordnung sorgt.
Fernab taktischer Erwägungen werden allerdings hierzulande bereits weitaus innovativere Spielmodelle diskutiert. Neben dem Projekt Hoyzer werfen Staatsanwälte Reiner Calmund vor, er hätte anstatt teuerer Spieler gleich die Spiele gekauft. Aus kaufmännischer Sicht ein geschickter Zug. Bei Real Madrid machen sie große Augen. Dort investierte man vor drei Jahren 25 Millionen Euro in Beckham und blieb fortan ohne Titel.
Im Juni wird das Calmundsche Konzept wohl noch in den Kinderschuhen stecken, bleibt der deutschen Fußballnation nur das Glück des Gastgebers. Bei der letzten WM war es den Koreanern hold, lächelte Ihnen aus den Gesichtern der Schiedsrichter, die reihenweise Gegentore aberkannten, entgegen. Nebenbei wird an dieser Stelle deutlich, wie sehr das Glück der einen das Unglück der anderen bedeutet. Spanien und Italien mußten damals nach Hause fahren. Den Italienern wurde nun aber für das gegen Südkorea aberkannte Tor ein Abseitstreffer im letzten Spiel gegen Deutschland zuerkannt. So gleicht sich im Fußball alles aus. Yin-Yang.
Wie stehen nun aber die Chancen für unsere Nationalmannschaft wirklich? Weil es sich um ein Turnier handelt, bieten die letzten Spiele, Trainer oder Taktik wenig Anhaltspunkte. Wegen des inzwischen zwiespältigen Rufes von Glaskugeln und seit der Schließung von Delphi entwickelte die westliche Welt ein Prognoseverfahren, dessen Grundlage die statistisch verwurstete Vergangenheit bildet.
Analysiert man demgemäß die letzten Weltmeisterschaften auf dem europäischen Kontinent zeigt sich, so rund wie Sepp Herberger behauptete und abgesehen von oben angesprochenen »Sondereinflüssen« auf das Spiel, ist der Ball keineswegs. Lediglich um den dritten Platz spielt eine Überraschungsmannschaft und gewinnt meist. Im Endspiel stehen immer dieselben Kandidaten, und der Kreis der Weltmeister zieht sich noch enger. Kurz und gut, Deutschland wird mit 33 Prozent Wahrscheinlichkeit Weltmeister. Streicht man Frankreich und England, die nur zu Hause den Titel holten, steigt die Rate auf satte 43 Prozent. Brasilien erreicht 14 Prozent. Dummerweise liegt Italien mit Deutschland gleichauf, und was die Sache ganz übel aussehen läßt: Nie wurde ein Team zweimal Weltmeister im eigenen Land. Bleibt also nur, der Sqaudra Azzurra zum Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 2006 zu gratulieren. Außer, es wird wieder jene Regel aktiviert, mit der man 2002 statistisch (Ausnahme zum Beispiel Endspiel) gute Tippergebnisse gehabt hatte: Wer in Blau spielt, verliert.