Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 18. April 2006, Heft 8

Was zum Teufel ist geschehen?

von Uri Avnery, Tel Aviv

Es war eine richtige Protestwahl. Selbst junge Leute sagten sich: Statt unsere Stimme wegzuwerfen, wollen wir etwas zugunsten anderer tun. Die alten Leute, die Kranken (auch die unheilbar Kranken), die Behinderten und das gesamte Gesundheits- und Erziehungssystem waren Opfer der thatcheristischen Wirtschaftspolitik von Netanyahu, die Sharon unterstützt und die sogar Shimon Peres als »schweinisch« bezeichnet hatte. Diese Wahl für die Pensionäre war eine Kuriosität. Aber was geschah im Zentrum der Arena?
Zu Beginn der Wahlkampagne hatte ich geschrieben, daß sich das ganze politische System nach links bewege. Viele dachten, daß dies Wunschdenken sei und mit der Realität nichts zu tun habe. Nun ist genau dies geschehen. Das Hauptergebnis dieser Wahlen ist, daß der Einfluß des national-religiösen Blockes, der länger als eine Generation in Israel vorgeherrscht hat, gebrochen worden ist. All diejenigen, die glaubten, die Linke sei tot und Israel dazu verurteilt, eine lange Zeit vom rechten Flügel regiert zu werden, sind jetzt widerlegt. Alle rechten Parteien zusammen gewannen nur 32 Sitze, die religiösen 19. Mit 51 von 120 Sitzen in der Knesset kann der rechts-religiöse Flügel nicht mehr jede Maßnahme in Richtung Frieden blockieren. Das ist ein Wendepunkt. Der Traum von Groß-Israel, vom Mittelmeer bis zum Jordan, ist ausgeträumt.
Bezeichnenderweise hat die Nationalunion, die Partei, die sich vollkommen mit den Siedlern identifiziert, nur neun Sitze erlangt – etwa so viele wie beim letzten Mal. Nach dem herzzerreißenden Drama der Zerstörung der Gaza-Siedlungen bleiben die Siedler weiterhin unbeliebt. Sie haben die entscheidende Schlacht um die öffentliche Meinung verloren. Netanyahu erklärte vor den Wahlen, daß sie ein »nationales Referendum« über den Rückzug aus den besetzten Gebieten seien. Das war es denn auch – die Allgemeinheit hat überwältigend mit »Ja« gestimmt. Das Haupt-opfer ist allerdings Netanyahu selbst. Der Likud brach zusammen. Seit seiner Gründung durch Ariel Sharon 1973 ist er zu keiner Zeit derart gedemütigt worden und nun nur noch die fünftstärkste Partei in der Knesset.
Die Freude über diese Niederlage der Rechten wird durch eine sehr gefährliche Entwicklung gedämpft: den Aufstieg von Avigdor Liebermans Partei Unser Haus Israel, eine Mutation der Rechten mit offen faschistischer Tendenz. Lieberman, ein Einwanderer aus der früheren Sowjetunion und selbst ein Siedler, holt sich den Rückhalt hauptsächlich aus der »russischen« Gemeinde, die fast einstimmig extrem nationalistisch ist. Er ruft zur Vertreibung der Araber, die ein Fünftel der Bevölkerung Israels bilden, auf – angeblich durch einen Landaustausch; aber die Botschaft ist klar. Da gibt es auch die üblichen Merkmale solch einer Partei: den Führerkult, den Ruf nach »Gesetz und Ordnung«, intensiver Haß gegenüber »dem inneren wie äußeren Feind«. Dieser Mann erhielt zwölf Sitze und hat Netanyahu überholt.
Die Freudenszenen im Hauptquartier der Arbeitspartei mögen auf den ersten Blick übertrieben scheinen. Schließlich hat die Partei nur zwanzig Sitze gewonnen – gegenüber 19 beim letzten Mal. Aber die Zahl erzählt nicht die ganze Geschichte. Zunächst ist die politische Konsequenz weitreichend. Im Parlament spielen nicht nur die reinen Zahlen eine Rolle, sondern auch ihr Platz auf der politischen Karte. In der nächsten Knesset wird jede Koalition ohne Labor eher eine theoretische Option sein, wenn nicht vollkommen unmöglich. Amir Peretz wird nach Olmert die wichtigste Person im nächsten Kabinett sein.
Noch wichtiger: Peretz, der erste »orientalisch«-jüdische Führer einer größeren israelischen Partei, hat den historischen Haß gegenüber den Einwanderern aus muslimischen Ländern und ihren Nachkommen gegen Labor überwunden. Er zerstörte die übliche Gleichung: orientalisch = arm = rechts versus aschkenasisch = wohlhabend = links. Das hat seinen vollen Ausdruck noch nicht bei dieser Wahl gefunden. Der Zuwachs durch orientalische Juden ist nur mäßig. Aber keiner, der gesehen hat, wie Peretz auf den offenen Marktplätzen, die bisher Festungen der Likud gewesen waren, empfangen wurde, kann bezweifeln, daß sich etwas Grundsätzliches geändert hat.
Und was noch wichtiger ist: Als Peretz vor kaum drei Monaten auf der Bildfläche erschien, war Labor eine wandelnde Leiche. Nun aber lebt die Partei, vibriert und ist aktionshungrig. Peretz könnte sehr wohl als Kandidat für den Posten des Ministerpräsidenten bei den nächsten Wahlen aufgestellt werden. Bis dahin wird er sicher auch einen großen Einfluß auf die sozialen Belange und den Friedensprozeß erlangt haben. Das ist natürlich die Hauptfrage: Kann uns die nächste Regierung dem Frieden näherbringen? Kadima hat die Wahlen gewonnen, ist aber nicht glücklich. Als sie von Sharon gegründet wurde, erwartete man 45 Sitze – und nach oben waren keine Grenzen gesetzt. Nun muß sie sich mit schäbigen 28 Sitzen zufriedengeben, gerade genug, um die Regierung zu führen, aber nicht genug, um die Politik zu diktieren.
In seiner Siegesrede rief Olmert Mahmoud Abbas auf, Frieden zu machen. Aber das war eine leere Geste. Kein Palästinenser kann die Bedingungen akzeptieren, die Olmert im Sinn hat. Wenn die Palästinenser also nicht zeigen, daß sie »Partner« sind, will Olmert »Israels permanente Grenzen einseitig festlegen«, das heißt, daß er zwischen 15 bis 55 Prozent der Westbank annektieren will.
Es ist zweifelhaft, ob Peretz der Regierung eine andere Politik aufzwingen kann. Möglich ist, daß die ganze Frage aufgeschoben wird – unter dem Vorwand, daß man sich erst einmal mit der sozialen Krise befassen müsse. In der Zwischenzeit geht der Kampf gegen die Palästinenser weiter – mit Mauer- und Siedlungsbau.
Es liegt nun an der Friedensbewegung, dies zu ändern. Die Wahlen zeigen, daß die israelische Öffentlichkeit ein Ende des Konfliktes wünscht, daß sie die Träume der Siedler und ihrer Anhänger zurückweist, daß sie eine Lösung sucht. Wir haben dazu beigetragen. Nun ist es unser Job, der Öffentlichkeit zu zeigen, daß Olmerts einseitiger Friede gar kein Friede ist und zu keiner Lösung führt.
An unserem Wahltag bestätigte das palästinensische Parlament die neue palästinensische Regierung. Mit dieser Regierung können und müssen wir verhandeln. Im Augenblick ist die Mehrheit in Israel noch nicht dazu bereit. Aber die Wahlen zeigen, daß wir auf dem Weg sind.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, von der Redaktion gekürzt