Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 3. April 2006, Heft 7

Tschernobyl

von Roland M. Richter

Als am 17. Dezember 1969 durch die sowjetische Führung der Beschluß gefaßt wurde, zehn Kilometer nördlich der Kreisstadt Tschernobyl ein Kernkraftwerk zu errichten, war dieser Ort kaum jemanden außerhalb des Verwaltungsbezirks bekannt. Dabei konnten die Einwohner der Stadt Tschernobyl auf eine mehr als 800 Jahre zurückreichende Geschichte zurückblicken. Sie entstand im Herrschaftsgebiet des Tschernigower Geschlechts der Grafen Tschernij, Verbündete und Vasallen der Herrscher der Kiewer Rus. Tschernobyl entwickelte sich zu einem ländlichen Handelszentrum, zum östlichen Vorposten des galizischen Judentums. Die Juden stellten zu Beginn des deutschen Überfalls etwa die Hälfte der Stadtbevölkerung. Nach Kriegsende kehrten nur wenige in die Stadt zurück, die ein Zentrum der Partisanenbewegung der nördlich von ihr gelegenen Pripjatsümpfe gewesen war.
In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde Tschernobyl »Hafenstadt« – am Stausee des Kiewer Meeres. Mit Beginn der siebziger Jahre strömten aus allen Teilen der damaligen Sowjetunion junge Menschen nach Tschernobyl, besser: in die nur fünfzehn Kilometer nördlich davon entstehende Stadt Pripjat, in die am Ufer des gleichnamigen Flusses emporwachsende Stadt des Kraftwerkspersonals. Die Errichtung des Kernkraftwerks wurde zum Zentralen Jugendobjekt des Komsomol erklärt, Fachleute aus den sowjetischen Nuklearzentren im Ural und in Sibirien, Hochschulabsolventen aus Kiew, Leningrad, Moskau oder Odessa, die Jugend aus den naheliegenden weißrussischen und ukrainischen Dörfern und Weilern lockten gutbezahlte Jobs und die sonst raren Wohnungen. Bald hatte die neue Kraftwerksstadt die alte Kreisstadt in der Einwohnerzahl und in der Lebensqualität überholt. Noch heute schwärmen frühere Pripjater von den für sowjetische Verhältnisse großzügigen Wohnungen, von den Kultur- und Sporteinrichtungen, vom Kulturpark, vom Bad im Pripjat und der Anlegestelle für Tragflächenboote, welche im Stundentakt nach Kiew verkehrten.
Am 28. März 1984 nahm Block 4 drei Monate vorfristig den industriellen Dauerbetrieb auf. Zu dieser Zeit drehten sich bereits die Kräne über den Baustellen der Blöcke 5 und 6, wo Reaktoren vom Typ RBMK, dem gleichen wie in den fertiggestellten vier Blöcken, doch mit einer Leistung von 1500 MW, installiert werden sollten. Das KKW Tschernobyl war das erste Kernkraftwerk in der Ukraine, stand damit unter besonderer Beobachtung seitens der Kiewer KP-Führung. Vieles wurde nach der Hauruck-Methode »Vorwärts unter dem siegreichen Banner Lenins« angefaßt und beschleunigt, eine Herangehensweise, die sich auch in der Betriebsführung wiederfand. Bis zum heutigen Tag ist das KKW Tschernobyl, was Sicherheits- und Produktionskultur betrifft, Schlußlicht aller Nuklearobjekte im postsowjetischen Raum. Bis heute haben in diesem Kernkraftwerk subjektiv gefärbte Leitungsentscheidungen Vorrang vor rationalen Sachentscheidungen. All das war ebenso wie die verbreitete Auffassung vom allseits gezähmten Atom eine der Ursachen für die Katastrophe im April vor zwanzig Jahren.
Mit einem Schlag veränderte sich das Leben der Bevölkerung im Umkreis des Kernkraftwerkes. Mehr als 200000 Menschen verloren ihr Heim und wurden umgesiedelt, weltweit wurde dem Ansehen und damit der Entwicklung der Kernenergie nicht wiedergutzumachender Schaden zugefügt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß dem Personal des Kraftwerkes ebenso wie den Planern derartiger Anlagen jegliche Schuldgefühle für das Vorgefallene fremd sind; für die Ukrainer ist es das Werk der Moskowiter, für die Russen das Ergebnis ukrainischer Desorganisation.
Im Rahmen einer gewaltigen Sonderaktion wurde vom 20. Mai bis zum 30. November 1986 der Sarkophag über den zerstörten Unglücksreaktor geplant und zumeist ferngesteuert errichtet. Daß dieses Bauwerk bis heute seinen Zweck erfüllt, darf durchaus als große ingenieurtechnische und menschliche Leistung aller Beteiligten angesehen werden. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß die notwendige Eile und die objektiven Bedingungen seiner Errichtung auch Mängel verursachten, insbesondere was die fehlende Erdbebensicherheit und die Möglichkeit des Eindringens atmosphärischer Niederschläge betrifft. Ebenso ist die Widerstandsfähigkeit gegen Wirbelstürme unzureichend. Bei einem zum Beispiel durch Erdbeben verursachten Zusammensturz würde Berechnungen zufolge wiederum eine Wolke radioaktiven Staubs aufgewirbelt werden, welche erneut das Dreißig-Kilometer-Sperrgebiet kontaminieren, sich allerdings auf Grund des Fehlens eines thermischen Auftriebs, im Mai 1986 Folge des Reaktorbrandes, nicht über die Grenzen des Sperrgebietes ausbreiten würde.
Bereits im Jahre 1986 wurden bald nach der Reaktorkatastrophe die in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Blöcke 1 und 2 wieder in Betrieb genommen. Block 3 folgte nach Abschluß der Arbeiten am Sarkophag im darauffolgenden Jahr 1987.
1987 begann auch die Errichtung einer neuen Stadt für das Kraftwerkspersonal, sechzig Kilometer östlich des Kernkraftwerks, nach dem sagenhaften Stammvater aller slawischen Stämme Slawutitsch genannt. Slawutitsch ist eine Stadt aus der Retorte, aber eine von den feinsten. Hier bauten von 1987 bis 1991 Bauleute aus den verschiedensten Sowjetrepubliken, vom Kaukasus bis zum Weißen Meer. Es entstand eine Mischung aus Plattenbauten, Punkthäusern und vielen Einfamilienhäusern, jeweils im Stil und mit dem Baumaterial der einzelnen Regionen der Sowjetunion. Nicht alles wurde fertig, an der Stelle eines geplanten Gondelteiches gähnt ein großes Sandloch inmitten des Stadtparks, das Hotel am Bahnhof blieb Investruine ebenso wie eine Reihe von Einfamilienhäusern in Plattenbauweise. Dennoch: Slawutitsch ist heute eine blühende Stadt mit etwa 30000 Einwohnern, die Hälfte im Alter unter 25 Jahren.
Die meisten Wohnungen und Einfamilienhäuser wurden sofort mit der Wende zu – für deutsche Verhältnisse unglaublich – günstigen Preisen an die damaligen Mieter verkauft. Die Wohnungen sind heute zumeist nach dem letzten Chic eingerichtet, wie es in der Ukraine heißt: nach Euro-Standard. Nur die Treppenhäuser bieten den schon aus früheren Zeiten gewohnten erbarmungswürdigen Anblick. Kein Wunder: Bei den staatlich regulierten Betriebskostenabgaben kann die kommunale Wohnungsverwaltung kaum eine größere Instandhaltungsmaßnahme finanzieren.
In den vergangenen fünfzehn Jahren begann sich eine Mittelschicht von Unternehmern zu bilden, alle im Dienstleistungsbereich, und alle häufig angefeindet als Mafiosi. Es ist die vorherrschende Meinung, daß man nur auf krummen Wegen erfolgreich sein kann. Das Kernkraftwerk beschäftigt noch mehr als dreitausend Mitarbeiter und bezahlt sie, zumindest für ukrainische Verhältnisse, nicht schlecht. Der monatliche Durchschnittslohn lag im Jahre 2005 bei etwa 200 Euro netto, das ist das Fünffache des gesetzlich festgelegten Mindestlohns. Slawutitsch gilt in der Ukraine als reiche Stadt.