Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 18. April 2006, Heft 8

Problemfall Tschernobyl

von Roland M. Richter

Die frühere Stadt der Kernkraftwerker, Pripjat, bleibt Sperrgebiet und unbewohnt (siehe auch Blättchen 7/2006). Langsam holt sich die Natur die Straßen und Plätze zurück. Die frühere Kreisstadt hatte im toten Winkel der radioaktiven Spur gelegen und ist heute das Verwaltungszentrum der Dreißig-Kilometer-Sperrzone. Außer dem Popen, der die auf Staatskosten soeben neu hergerichtete orthodoxe Kirche am Rand der Stadt betreut und sich um die Seelen der nicht allzu häufigen Besucher sorgt, hat die Stadt offiziell keine ständigen Einwohner. Und doch wohnen in Spitzenzeiten etwa sechstausend Menschen hier, leben, arbeiten und vergnügen sich. Es sind Angestellte der Verwaltungsorgane und von wissenschaftlichen Institutionen, die von Dienstag bis Donnerstag in Tschernobyl tätig sind und sich die restlichen Tage »von den Strahlenbelastungen erholen«. Es sind Beschäftigte der Bau- und Montagefirmen, die an Vorhaben im Sperrgebiet, insbesondere im und am Kernkraftwerk arbeiten und aus der gesamten Ukraine angeworben werden, und im Zwei-Wochen-Zyklus arbeiten, in Wohnheimen in der Stadt Tschernobyl untergebracht sind, und Zwei-Wochen-Heimfahrten genießen. Zwar arbeiten im KKW noch mehr als dreitausend Mitarbeiter, doch kaum einer würde auch nur daran denken, sich als Bauarbeiter zu verdingen, weil sich von der Rente für die Tschernobylopfer leben läßt– nicht besonders gut, jedoch ist es möglich.
Sprechen Touristen oder Reporter mit Menschen in Tschernobyl, ganz gleich ob mit einem Polizisten oder mit einem Leiter einer Behörde, so bekommen sie wahre Horrorgeschichten über die Strahlenschäden, über Krankheit und Tod zu hören. Jeder Schnupfen wird zur Folge der Tschernobyler Katastrophe, jedweder Todesfall sowieso. Ungeachtet aller Unbequemlichkeiten, die das Pendlerleben und die Restriktionen der Sperrzone mit sich bringen, man hat sich nicht übel eingerichtet, kann alle Krankheiten eines extensiven Lebenswandels auf den Störfall abladen und hofft nicht allzu grundlos, daß die Hilfsleistungen aus dem westlichen Ausland das Leben auch weiterhin gut auspolstern und soziale Sicherheit gewährleisten.
Auf ihre Leistungen bei der Errichtung des Sarkophages und bei der Wiederinbetriebnahme der übrigen drei Blöcke ist das KKW-Personal nicht ohne Grund noch heute stolz. Sie erbrachten diese Leistungen unter widrigen Bedingungen und mit hohen Anstrengungen. Sie verstanden die Welt nicht mehr, als diese die Abschaltung des Kernkraftwerkes zur Bedingung für internationale Hilfeleistungen machte. Daß sie selbst mit dem Reaktorunfall der Welt einen riesigen Schaden zufügten, haben sie bis heute nicht begriffen – oder wollen es nicht begreifen. In ihren Augen sei es die Pflicht der internationalen Gemeinschaft, ihnen finanziell unter die Arme zu greifen, einerseits, weil sie Katastrophenopfer seien, andererseits als Belohnung für die Lostrennung von Rußland.
Und so brachten die neunziger Jahre im Selbstverständnis der Leitung und der Belegschaft des KKW Tschernobyl eine Reihe von Enttäuschungen. Die größte Enttäuschung war wohl, daß das Ausland ihre Betriebsführung mit äußerstem Mißtrauen begegnete, sie – höchstberechtigt – wegen mangelnder Sicherheitskultur, Ordnung und Sauberkeit kritisierte. Hoffnungsschimmer für eine glorreiche Zukunft keimten auf, als 1994 die G7-Staaten mit der Ukraine ein Memorandum über Hilfsleistungen bei der Errichtung des neuen Sarkophages und der Sicherheitserhöhung im Block 3 unterzeichneten. Wissentlich übersehen wurde dabei die Verpflichtung der Ukraine zur Stillegung aller Blöcke am Standort Tschernobyl, außerdem die Tatsache, daß die Weltgemeinschaft zwar Kredite für die Fertigstellung der Blöcke 4 im KKW Rowno und 2 im KKW Chmelnizki versprach, aber keine Grants wie im Fall Tschernobyls. Die in Aussicht stehenden Summen von 750 Millionen US-Dollar für den Sarkophag 2 und von etwa 500 Millionen Euro für sicherheitserhöhende und stillegungsbegleitende Maßnahmen am Standort Tschernobyl blendeten auch so manchem die Augen.
Doch noch glaubte man, wenigstens Block 3, der schließlich mit hohem finanziellen Aufwand modernisiert wurde, in Betrieb halten zu können. Doch die Politik blieb unerbittlich: Auch Block 3 mußte am 15. Dezember 2000 endgültig abgeschaltet werden, wozu sogar der damalige ukrainische Präsident Kutschma anreiste. Das Kraftwerkspersonal hatte Trauerflor angelegt, vielen standen Tränen in den Augen. Vergessen war, daß dieser Standort Ausgangspunkt der größten technogenen Katastrophe der Menschheit und daß diese im wesentlichen durch Versagen des Bedienungspersonals verschuldet war.
Die Unternehmen, die antraten, dem Kraftwerk technische Hilfe zu leisten, mußten sehr schnell erkennen, daß sie als ungeliebte Eindringlinge galten, die mit den Arbeiten zur Stillegung Arbeitsplätze und Pfründe vernichten. Wer nach Slawutitsch kam und auf Unterstützung durch das Kraftwerksmanagement gehofft hatte, wurde bald bitter enttäuscht. Selbst für das Firmenpersonal den Zutritt zu den Baustellen zu erlangen, erforderte teilweise monatelange Auseinandersetzungen mit der ukrainischen Bürokratie. Die politischen Instabilitäten und das in ihrer Folge heftig kreisende Personalkarussell in der Ukraine verzögerte nochmals alle Arbeiten. Das mußten sehr schnell die Firmen erkennen, die die Projekte »Errichtung des Trockenlagers für abgebrannten Kernbrennstoff«, »Errichtung einer Anlage zur Konditionierung flüssiger radioaktiver Abfälle zur weiteren Zwischenlagerung« und »Errichtung einer Anlage zur Konditionierung fester radioaktiver Abfälle mit Errichtung des Zwischenlagers für konditionierte radioaktive Abfälle« leiten und ausführen.
Mittlerweile sind alle Projekte zur Stillegungsvorbereitung im KKW Tschernobyl sowohl aus dem zeitlichen wie auch aus dem finanziellen Rahmen gelaufen. Einen Teil Schuld an dieser Situation tragen dabei auch die beteiligten ausländischen Organisationen, die partiell naiv und ohne Beachtung der ukrainischen Besonderheiten ans Werk gingen. Sie legten ihre üblichen Maßstäbe an und berücksichtigten auch nicht, daß das niedrigere Lohnniveau in der Ukraine durch eine niedrige Arbeitsproduktivität mehr als ausgeglichen wird, daß das ukrainische System der speziellen Erlaubniserteilung für bestimmte Leistungen den Monopolcharakter der Industrie konserviert hat, daß kaum einer westlichen Firma die Lizenz zur eigenständigen Tätigkeit im Nuklearsektor erteilt wird und diese damit auf Gedeih und Verderb dem Wohlwollen der wenigen lizenzierten ukrainischen Firmen ausgeliefert sind.
Tschernobyl ist von einem nuklearen zu einem organisatorischen und sozialen Problemfall geworden. Doch solange am Standort Kernbrennstoff gelagert wird, darf die internationale Aufmerksamkeit nicht nachlassen.