Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 3. April 2006, Heft 7

Kulturelle Gewalt

von Dalal Al-Bizri, Kairo

Zwölf dänische Zeichner haben zwölf Karikaturen angefertigt, die den verehrten Propheten Muhammad beleidigen. Vielleicht sind sie gar nicht alle Rassisten oder Mitglieder rassistischer Parteien, vielleicht wollten sie gar nicht die Gefühle der Muslime beleidigen, und vielleicht waren es nur ihre Bilder und Vorurteile, die sie zu diesen Zeichnungen vom Propheten inspiriert haben.
Warum aber haben sie dieses Bild? Und warum haben sie sich überhaupt an dieser Aktion beteiligt? Sie gaben sich erstaunt, als sie bemerkten, daß die arabisch-muslimische Welt noch einen weiten Weg zur Demokratie vor sich hat – wo wir doch schon fast so weit sind, transparente und freie Wahlen durchführen zu können. Die Verfechter der Meinungsfreiheit wollen die Muslime bevormunden: Wir sollen genauso werden wie sie. Sie haben die Karikaturen im Namen der Demokratie auf propagandistische Weise verteidigt, ohne Phantasie und ohne sich groß Mühe zu geben. Sie versuchten, vorgefertigte Worthülsen für eine Situation zu verwenden, zu der sie nicht passen. Sie erwarten von uns, daß wir genauso sind wie sie.
Äußerungen wie »Der Islam braucht eine Art Beleidigung, um erwachsen zu werden« oder »Eine Religion, die keine Selbstironie kennt, kann in Angst und Schrecken münden« üben symbolisch kulturelle Gewalt aus. Sie stellen eine Art Bevormundung der Muslime dar: »Werdet wie wir, dann werden wir euch auch akzeptieren!« So sieht also die Botschaft derer aus, die auf ihrem angebeteten und durch Gesetz und Tradition garantierten Recht auf Meinungsfreiheit beharren: Es ist eine Art kultureller Böswilligkeit, Ausdruck eines schlafenden Kolonialismus, der vom religiösen Terror wiedererweckt wurde.
So fördern die Verteidiger der Karikaturen jenen von Bin Laden gewollten Krieg zwischen Kulturen und Zivilisationen noch. Auch religiöse Strömungen, insbesondere die Muslimbrüder, fördern diesen Krieg – ebenso wie einzelne Regierungen, die ihre Lokal- und Regionalpolitik legitimieren wollen. […]
Bei uns scheint die Religion im Widerspruch zu unserer Umwelt zu stehen: Keine der individuellen und politischen Krisenerscheinungen in unserer Geschichte und Gegenwart hat uns irgendwie aufgebracht. […] Auf der Titelseite der unabhängigen ägyptischen Zeitung Al-Misri Al-Yaum waren zwei erschütternde Bilder zu sehen: Mehr als tausend Ägypter starben bei einem Schiffsunglück wegen Korruption und Unachtsamkeit. Aber nur die Angehörigen der Toten sind ihretwegen auf die Straße gegangen […] Dem Bild der wenigen Angehörigen der Unglücksopfer steht das Bild von Zehntausenden wütender Demonstranten im Libanon und in Ägypten gegenüber, die mit Fackeln und Steinen in der Hand bereit scheinen, sich selbst zu opfern. […] Wegen des verfälschten Bildes unserer Religion sind wir offenbar bereit zu sterben, und es sieht so aus, als wären wir hingegen nicht dazu bereit, für die Wiederbelebung ihrer (wahren) Lehren zu leben. […]
Unsere Reaktionen auf die Zeichnungen waren sehr überzeichnet, fast wie Karikaturen, ohne Vernunft und verallgemeinernd, getragen von einer Menge Vorurteilen über den »ungläubigen« Westen. Die Dänen und nach ihnen die übrigen Europäer sind den Vorurteilen einiger weniger gefolgt – und diese haben wir nun durch unsere unüberlegten Reaktionen noch verstärkt. […] Die künftigen Opfer der Folgen unserer Reaktionen könnten die Muslime in diesen Ländern selbst sein, die neuen europäischen Minderheiten.
Die Kritik an der Verunglimpfung des Propheten war anders, als man es erwarten durfte. Sie artikulierte sich ohne Geist und Moral – wie die Proteste von Wegelagerern oder Söldnern. Die populistischen Gesten haben gezeigt, daß »die Straße« von zwei Gruppierungen beherrscht wird: vom Pöbel und von den Interessegeleiteten. Der Pöbel hatte von den Zeichnungen und von der Provokation nur gehört und sich dann beeilt, sie zu verurteilen. Und die Interessegeleiteten aus den Reihen des Staats und aus (politischen) Bewegungen spielten mit dem Islam – unkontrolliert und wie es ihnen gerade in den Kram paßt. Ihnen geht es dabei gar nicht um die Religion, sondern um ihre jeweils aktuellen Eigeninteressen. Die Geheimnisse dieses Rezepts kennt nur, wer darin geübt ist, mit den Überzeugungen und dem Glauben der einfachen Leute zu spielen.
Und noch etwas: Das Messen mit zweierlei Maß war dieses Mal unsere Angelegenheit. Im Eifer des Augenblicks angesichts des Bilds von uns haben wir vergessen, daß wir nicht besser sind als die, die sich über uns und unseren Propheten lustig machen. Auch wir greifen ihre Heiligtümer an, wir verbrennen bei unseren Demonstrationen ihre Fahnen, treten sie mit Füßen und verbrennen Figuren ihrer Führer. Wir nennen sie ständig Söhne von »Affen und Schweinen«. Wir diffamieren Tag und Nacht ihre Werte, ihre Ehre und ihre Moral, und wir quasseln in unseren Fernsehprogrammen über ihren Niedergang, ihre Dekadenz und den Zerfall ihrer Familien. Der Jude hat auf vielen unserer Karikaturen Teufelsohren, scheußliche Krallen und eine Hakennase. Und Scharon, der auf politischer Ebene zu Recht auf jede mögliche Weise beschimpft werden kann, erscheint in der Gestalt eines Blutsaugers oder mit Schweineschwanz. Die Liste solcher Beispiele ist lang.
Es gibt Leute, die versuchen, den Islam zu einem Instrument für eine Bande von Machtversessenen zu machen. Im Libanon war die Stimme des Iran sogar noch brutaler: Hassan Nassrallah, der Generalsekretär der Hizbullah, mobilisierte während einer Feier gegen die Zeichnungen und griff die Zeichner auf besondere Weise an: Wenn ein Muslim die Fatwa des Imam Khomeini gegen den vom Glauben abgefallenen Salman Rushdie ausgeführt hätte, dann hätten es diese Leute nicht gewagt, den Propheten Gottes zu diffamieren – weder in Dänemark, noch in Norwegen oder Frankreich.
Der »Aufruhr« der Muslime zur Verteidigung des Bildes vom Islam hat sein erklärtes Ziel nicht erreicht. Vielmehr hat er dem Islam selbst und seinem Ansehen geschadet. Auf der anderen Seite haben die Karikaturenverteidiger der Meinungsfreiheit und der Demokratie in der arabischen und islamischen Welt, aber auch im Westen selbst geschadet […] – nicht zuletzt weil die extreme Rechte in Europa bei den nächsten Wahlen am meisten von diesem ganzen Sturm profitieren wird.

Aus: Al-Hayat, London; Übersetzung: Memri (memri.de). Die Libanesin Dalal Al-Bizri ist Soziologin und lebt in Kairo.