Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 20. März 2006, Heft 6

Unsere lieben Opis

von Wolfgang Sabath

Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht; aber es verstreicht Jahrzehnt um Jahrzehnt, die Literatur – belletristisch, dokumentarisch und wissenschaftlich – über Krieg und Faschismus ist ob ihres Umfangs geradezu eine eigene Gattung geworden, doch unsereins hat(te) sich immer noch die Vater-Mutter- und Onkel-Tanten-Märchen anzuhören beziehungsweise hatte bis zum biologischen Gehtnichtmehr selbige zu ertragen: Weit und breit war es bis jetzt nie jemand gewesen, der damals geschossen, mitgeschossen, der getötet, mitgetötet, der gemordet oder mitgemordet hatte. Alle waren sie in Paris gewesen oder haben in der Etappe bei Smolensk die Erbsensuppe in der Feldküche umgerührt.
Lange Zeit schien es so, als hätten sich viele Fragen längst erledigt. Doch es erscheinen immer noch und immer wieder Bücher, in denen (jetzt schon meist von der Enkelgeneration) nachgefragt wird. Die Motive der Autoren ähneln sich, doch es gibt auch prägnante Unterschiede. Waren Niklas Franks Der Vater und Meine deutsche Mutter zum Teil von kalter Wut und von geradezu alttestamentarischer Unversöhnlichkeit sowie bösem Spott gezeichnet (Meine deutsche Mutter!), gelingt es anderen Autoren, sich Abstand zu verschaffen. Das muß nicht unbedingt daran liegen, daß andere Täter-Väter nicht eine so herausgehobene Position wie Hans Frank auf dem Wawel hatten, sondern daran, daß andere Autorinnen und Autoren weniger an privaten, an abrufbaren persönlichen Erinnerungen zu tragen haben.
Zum Beispiel Katrin Himmler, Jahrgang 1967. In ihrem Buch Die Brüder Himmler – Eine deutsche Familiengeschichte schreibt sie über ihren Großvater und über zwei Großonkel (einer davon: Heinrich Himmler). Das bedeutet, sie muß in diesem Buch nicht mehr vorrangig persönliche Enttäuschungen »aufarbeiten«, Großvater ist eben nicht Vater, und Großonkel nicht Onkel (in dessen Garten man spielte und auf dessen Schoß man saß … ).
Über weite Strecken ähnelt das Buch über die Himmler-Family der Geschichte einer deutschen Familie von Wibke Bruhns (Meines Vaters Land). Auch sie kann sich aus Nachlässen und Schriftwechseln bedienen, allerdings nicht in so reichem Maße wie Wibke Bruhns. Außerdem: In der Bruhnschen Sippschaft gab es eben keinen Himmler. Das macht – ob einen prinzipiellen, sei dahingestellt – natürlich einen Unterschied. Doch nach dem Lesen beider Bücher kann man es drehen und wenden, wie man will: Die Firma Hitler & Himmler begann lange vor 1933 – selbst Hakenkreuz am Stahlhelm, Schwarzweißrot das Band. Die Brigade Ehrhardt werden wir genannt! (und Himmlers, selbstverständlich, immer mittendrin …) wäre schon zu spät angesetzt, um dem Versagen und die Haupt- und Mittäterschaft des deutschen Bürgertums für Faschismus und Holocaust einen zeitlichen Rahmen zu geben.
Auch Bruno Sattler, der es zum Berliner Kriminalkommissar (als solcher auch involviert in Mielkes Bülowplatz-Mord, in die Ermordung John Schehrs und Genossen am Kilometerberg in Berlin-Wannsee) und Gestapo-Chef von Belgrad bringen sollte (Erfinder des Vergasungswagens) war einst Freikorps-Mann. Beate Niemann (geborene Sattler), Jahrgang 1942, nennt ihr Buch Mein guter Vater. Mit dieser Prämisse wurde sie groß. Da wurde Vergangenheit nicht nur schlicht-üblich verschwiegen, sondern von der Mutter aktiv umgelogen. Es war ein Gespinst aus Lügen, Halb- und Unwahrheiten. Und zwar bis ins Detail, wenn es angebracht schien. Im Sommer 2001 zum Beispiel findet die Autorin eine Postkarte ihrer Mutter an den Ehemann, in der sie ihm kurz mitteilt: »Die Leon kommt am 20.6. mit Transport nach dem Osten. (… ) Wegen der Hypothek.« »Die Leon« ist Getrud Sara Leon, Jüdin. Bislang war die Tochter von einem redlichen Erwerb des Hauses in Tempelhof ausgegangen – wieder eine Lüge geplatzt, eine von den – vergleichsweise – kleineren.
Die Inszenierung der großen Familienlüge mag der Ehefrau insofern nicht besonders schwergefallen sein, als Bruno Sattler, der den Krieg überlebt und unter falschem Namen nach Berlin zurückgekehrt war, wo er von seiner Familie getrennt in einer Pension lebte, am 11. August 1947 aus West- nach Ostberlin verschleppt wurde. Fortan an gab es in der Familie also einen Unschuldigen, der – Nachrichten über sein Schicksal gab es lange nicht – irgendwann für tot erklärt wurde. 1952 war Bruno Sattler in Greifswald zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden. Die Legende »unschuldiger Vater« konnte weitergehen.
Die Verbrechen der Sattler & Co. sind im Laufe jahrzehntelanger Historikerforschung hinreichend dokumentiert, jedenfalls so hinreichend, daß es kaum noch Verbrechen gibt, die wir nicht kennen oder von denen wir nicht gehört und gelesen hätten. Indes: Beate Niemann arbeitet mit sehr vielen »Originaltexteinfügungen und Quellenangaben. Auf sie will ich nicht verzichten, weil sie die Authentizität …«: »1952 nimmt mich meine Mutter mit zu einem Besuch in Hannover. In Hannover werden wir am Flughafen von Rudolf Diels und Walter Zirpins abgeholt. Beide sind Freunde meines Vaters aus Berliner Polizeitagen. … Diels steht inzwischen an führender Stelle in der Regierung des Landes Niedersachsen.« Fußnote zu Zirpins: Walter Zirpins war Sachverständiger im Reichstagsbrandprozeß 1933. Er bekleidete das Amt eines SS-Sturmbannführers und Kriminaldirektors im Amt IV des RSHA. Im Krieg war er mit der »Endlösung der Judenfrage« in den Ghettos von Warschau und Litzmannstadt befaßt; nach Kriegsende wurde er Oberregierungsrat und Leiter des Landeskriminalamtes Niedersachsen.
Katrin Himmler übrigens arbeitete ohne Fußnoten, aber auch sie weiß solche Interna über das Bonner Nachkriegsestablishment mitzuteilen, die uns noch heute die Gallenblase »anregen«. Sie zitiert zum Beispiel aus einem Rundbrief Oswald Pohls, den Eleonore Pohl zwei Monate nach der Bestätigung des Todesurteils für ihren Mann an Freunde und Sympathisanten verschickte: Sogar der Papst, tat Pohl darin kund, habe ihm »telegraphisch Gruß und Segen« übermittelt. Und: »Der Erzbischof von Regensburg sandte mir sein Brustkreuz. Viele unbekannte Frauen u. Männer boten sich an, für mich zu sterben.« Pohl (auch ein alter Freikorps-Mann), SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS, Chef des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamts (WVHA) wurde am 8. Juni 1951 hingerichtet, der Gute Vater (Bruno Sattler) starb 1972 im Gefängnis in Leipzig-Meusdorf.

Katrin Himmler: Die Brüder Himmler – Eine deutsche Familiengeschichte, S. Fischer Frankfurt/Main, 329 Seiten, 19,90 Euro; Beate Niemann: Mein Guter Vater – Mein Leben mit seiner Vergangenheit, Verlag Hentrich & Hentrich Teetz, 223 Seiten, 19,90 Euro; ferner: Niklas Frank: Der Vater – Eine Abrechnung. Vorwort von Ralph Giordano und Ian Kershaw, Goldmann-Taschenbuch München, 312 Seiten, 10 Euro; Niklas Frank: Meine deutsche Mutter, Bertelsmann München, 478 Seiten, 22,90 Euro; Wibke Bruhns: Meines Vaters Land – Geschichte einer deutschen Familie, Ullstein-Taschenbuch Berlin, 387 Seiten, 9,95 Euro