von Ronald Lötzsch
So lautet der Titel eines Buches, das sein Autor, Norbert Mappes-Niediek, am 23. Februar dieses Jahres in Berlins Rotem Rathaus vorstellte. Daß es um die Lösung nationaler Probleme auf dem Balkan geht, wird durch den Untertitel Der Balkan-Konflikt und was Europa daraus lernen kann verdeutlicht. Außerdem schmückt den Umschlag das farbenprächtige Bild einer Mandolinenspielerkapelle. Daß es sich um Albaner handelt, ist an den weißen Filzkappen zu erkennen, die alle Spieler tragen.
Das könnte zu der Vermutung verleiten, die »albanische Frage« sei das Hauptthema des Buches. Daß dem nicht so ist, wird klar, wenn man das ausführliche Inhaltsverzeichnis überfliegt. Das Ethnonym Albaner und das davon abgeleitete Adjektiv albanisch tauchen erst im vorletzten der sieben Kapitel auf. Dieses Kapitel, betitelt Von Herren und Knechten im Kosovo, vermittelt ein ungeschminktes Bild der barbarischen Behandlung der Albaner, und zwar nicht nur ihrer muslimischen Mehrheit, durch serbische Chauvinisten, seit der nördliche Teil des geschlossenen albanischen Siedlungsgebietes im ersten Balkankrieg 1912 von Serbien annektiert worden war.
Der Kosovo-Feldzug sei so grausam gewesen »wie die Eroberungen der Konquistadoren in Südamerika«. In wenigen Wochen seien 25000 Albaner Opfer dieser »Blutorgie« geworden. Mappes-Niediek verurteilt nicht nur diese Verbrechen, sondern auch die primitive und verlogene Agitation serbischer Chauvinisten gegen die Albaner und gegen alles Albanische. Er zitiert die 1913 auch deutsch in Leipzig erschienene Hetzschrift eines früheren serbischen Premierministers, in der die absurde Behauptung in die Welt gesetzt wird, die Albaner erinnerten an »Urmenschen«, die »auf den Bäumen schliefen, an denen sie sich mit ihren Schweifen festhielten«. Uneingeschränkte Zustimmung verdient Mappes-Niedieks Einschätzung: »Um die Eroberung, die Grausamkeiten dabei und die fortdauernde Diskriminierung vor sich und der Welt zu rechtfertigen, mußte man die Albaner ein Stück aus der menschlichen Gesellschaft hinausdrängen und zu prähistorischen Naturwesen machen«. Das Los der Albaner im Königreich Jugoslawien sei die Unterdrückung durch eine Kolonialmacht gewesen.
Auf den Anschluß der albanisch besiedelten Gebiete Jugoslawiens an den italienischen Vasallenstaat Albanien nach der Zerschlagung des balkanischen Vielvölkerstaates durch Nazi-Deutschland und seine Komplizen geht Mappes-Niediek nicht weiter ein. Makabererweise aber entstanden damit in diesen Gebieten erstmals die Voraussetzungen für die Schaffung eines albanischen Schulwesens.
Doch auch später, nach der Wiederherstellung der Vorkriegsgrenzen »unter kommunistischer Herrschaft«, habe sich für die Albaner, »die im Krieg kaum Partisanen gestellt und mehrheitlich als Kollaborateure (mit den italienischen Besatzern – R. L.) gegolten hatten«, an der Unterdrückung wenig geändert. Und das, füge ich hinzu, obwohl es mit der Proklamierung der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien auch ein Autonomes Gebiet Kosovo und Metohija innerhalb der Republik Serbien gab.
Erst nach der im zu besprechenden Buch nicht genannten Entmachtung des jugoslawischen Innenmisters Rankovic´, eines Serben, im Jahre 1966 kam es zu einer Wende. Als »guter weißer Herr« sei Staats- und Parteichef Tito im März 1967 zum ersten Mal nach sechzehn Jahren in die Kosova-Hauptstadt Prishtina gekommen und habe die Ungleichheiten zwischen Serben und Albanern gegeißelt. Mit dem Besuch habe eine neue Ära begonnen, es sei ein beispielloser Aufbruch gewesen. Die Kolonialmacht habe sich nun von der spendablen Seite gezeigt und den Albanern »eine schlüsselfertige Hauptstadt« auf ihr Amselfeld gestellt. Seinen Höhepunkt habe der »Aufstieg der Albaner« mit der Verfassungsreform von 1974 erreicht, die »die Provinz mit den sechs Republiken (Serbien, Montenegro, Kroatien, Bosnien-Herzegovina, Slovenien und Makedonien – R. L.) formal fast völlig gleichstellte«.
Spätestens an dieser Stelle muß sich Widerspruch regen, zumal Mappes-Niediek fortfährt: »Nicht die albanische Gesellschaft des Kosovo hatte den Aufbau der 1970er Jahre zuwege gebracht; es war vielmehr die Kolonialmacht gewesen. Die albanische nationale Bewegung war nicht die Mutter, sondern das Kind des neuen Kosovo«. Es ist genau umgekehrt. Natürlich hatten Albaner den Aufbau bewerkstelligt und nicht die Serben. Die »Kolonialmacht« mußte es nur endlich zulassen. Tito konnte dies dank seiner Machtfülle und Autorität durchsetzen.
Eine weitere Voraussetzung war die Existenz einer albanischen Nationalbewegung, deren Entwicklung schon im 16. Jahrhundert eingesetzt hatte. Zeugnisse albanischen Schrifttums reichen sogar bis ins 14. Jahrhundert zurück. Schließlich erhielt Kosova nicht »formal«, sondern de facto Republikstatus. Sein Präsidium hatte – wie die der Republiken und das der ebenfalls autonomen Vojvodina – Sitz und Stimme im Präsidium der Föderation. Die nunmehr von Kosova-Albanern zunehmend erhobene Forderung nach staatsrechtlicher Sanktionierung des faktischen Zustandes, nach Unabhängigkeit von der Republik Serbien, führte nach Titos Tod erneut zu brutalen Repressalien seitens der serbischen Polizei und Justiz und zur Radikalisierung des Widerstandes dagegen sowie am Ende zur Abschaffung der Autonomie. Die Spirale der Gewalt gipfelte schließlich im Kosovo-Krieg von 1999 und in der Errichtung eines von der UNO sanktionierten Protektorats.
Die hier mit einigen kritischen Bemerkungen abgeschlossene Wiedergabe des wesentlichen Inhalts dieses der Albanerpolitik serbischer Eliten gewidmeten Kapitels soll gleichzeitig die Würdigung einer in der Literatur über die Balkankriege des ausgehenden 20. Jahrhundert seltenen Ausnahme sein. Denn die serbische »Lösung der albanische Frage« hat beim gewaltsamen Zerfall Jugoslawiens eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Dennoch wird sie von den meisten einschlägig befaßten Autoren, wenn überhaupt, nur am Rande berührt. Nicht zuletzt von denen, die dafür ausgiebig die Märchen von der »Zerschlagung Jugoslawiens durch den Westen und den Vatikan« kolportieren. Daß Mappes-Niediek diese Legenden souverän ignoriert, sollte man ihm als Verdienst anrechnen.
Nicht überzeugen kann mich, wie in den fünf vorausgegangenen Kapiteln die innerjugoslawischen Ursachen des Zerfalls dargestellt werden. Auf ihren dem Umfang nach etwa das Zehnfache des bisher besprochenen Kapitels ausmachenden Seiten finden sich zwar höchst interessante Exkurse in die Historie und in die nähere balkanische sowie in die weitere mittel- beziehungsweise westeuropäische »Umgebung«. Viele Aspekte der jugoslawischen Nationalitätenpolitik werden an manchen Stellen ausgesprochen positiv bewertet. Die Herstellung der vollständigen ethnischen Gleichberechtigung gilt für den Autor als gegeben. Selbst die Roma seien wie Menschen behandelt worden. Die Unterdrükkung der Albaner allerdings sei ein Sonderfall. Deswegen also auch die »Sonderbehandlung« am Schluß?
Und ausgerechnet wegen der Gleichberechtigung sei das Modell zum Scheitern verurteilt gewesen. Der ethnische Proporz habe demokratische Entscheidungen unmöglich gemacht, da er immer wieder am »runden Verteilungstisch« neu ausgehandelt werden mußte. Solange der »Große Schiedsrichter« Tito lebte, habe dies einigermaßen funktioniert, obwohl die sich verschärfende Wirtschaftskrise es immer schwieriger machte. Die mit den kommunistischen Ideologen des Internationalismus konkurrierenden Technokraten des »Selbstverwaltungssozialismus«, die keine Nationalisten gewesen seien (Beispiel – Milosˇevic´!), hätten schließlich nur eine einzige Möglichkeit für die Modernisierung und für den Anschluß an die EU gesehen: die Etablierung »ethnisch gesäuberter Nationalstaaten«. Und die hätten nur durch die dann tatsächlich vom Zaune gebrochenen Kriege geschaffen werden können. Die aus den Kriegen hervorgegangenen und schließlich mit Hängen und Würgen von der »internationalen Gemeinschaft« akzeptierten Einzelstaaten sind natürlich keine »Nationalstaaten«, sondern, wenn schon keine Vielvölkerstaaten wie Jugoslawien, so doch Mehrvölkerstaaten. Selbst Slowenien, wenn man die seinerzeit eingewanderten, etwa 200000 Seelen zählenden serbischen und bosnischen »Gastarbeiter« nicht ausklammert. Die nicht allzu zahlreichen Italiener in Istrien und die wenigen Ungarn im Prekmurje sind sogar als Minderheiten anerkannt.
Gedacht ist das Buch, dessen positive Seiten hier durchaus anerkannt werden, hauptsächlich als Warnung an die Adresse der EU-Mitgliedstaaten, nicht in die »Ethnofalle« zu tappen. Zum Glück ist das vergebliche Liebesmüh. Mit Ausnahme von Griechenland und Frankreich, die mit einer nicht nachvollziehbaren Borniertheit an der Fiktion der »Staatsnation« festhalten, dämmert es manchen hellsichtigeren Vertretern der dominierenden Nationalitäten, daß die Einheit ihrer Staaten am wenigsten gefährdet ist, wenn die Existenz nationaler Minderheiten anerkannt wird und diese gleichberechtigt sind. Minderheiten leben in allen EU-Staaten. Zumindest sogenannte allochthone, die vorwiegend erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingewandert sind. Selbst das kleine Luxemburg ist kein Nationalstaat im Wortsinne als »Staat einer Nation«, wie die Definition in Lexika lautet. Von seiner 2003 448300 Seelen zählenden Bevölkerung waren 38 Prozent keine Lëtzebuerger. Im Buch werden beliebige selbständige Staaten fast ausschließlich »Nationalstaaten« genannt. Bei der Präsentation am 23. Februar befragt, was er unter einem »Nationalstaat« verstehe, antwortete der Autor, das sei eben die westliche Auffassung von Nation.
Die im Schlußkapitel nicht explizit ausgesprochene, aber zwischen den Zeilen zu lesende Schlußfolgerung ist die Hoffnung auf allmähliche Assimilation der ethnischen Minderheiten. Schade!
Norbert Mappes-Niediek: Die Ethno-Falle. Der Balkan-Konflikt und was Europa daraus lernen kann, Chr. Links Verlag Berlin, 223 Seiten, 14,90 Euro
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