Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 20. Februar 2006, Heft 4

Zehn tote Tauben

von Eckhard Mieder

Frankfurt am Main ist eine Stadt, in der es um Leben und Tod geht. Unentwegt und unaufhörlich ist der Bewohner, der Tourist, der Geschäftsmann in der Gefahr, unter die Räder zu kommen, ausgeraubt, abgezockt oder mit Apfelwein vergiftet zu werden. Wer Frankfurt überlebt, hat das Gruseln gelernt und braucht nichts zu fürchten.
Einen im Lokalen spielenden Krimi preist der Societäts-Verlag als eine »schonungslose Abrechnung (mit) der vielleicht gefährlichsten Stadt Deutschlands« an. In ihr zu leben und abends, nach hartem Überlebenskampf, die eigenen vier Wände und den Kühlschrank zu erreichen, mache stolz. Wieder ein Tag überstanden.
Vor fast drei Jahren hatte sogar das Grauen die Stadt erreicht: Von Beamten des 3. Reviers wurden zehn tote Tauben im Rothschildpark gefunden. Zehn tote Tauben? Im Rothschildpark? Reden Sie mir nicht von einem Zufall. In einer Welt wo alles mit allem zusammenhängt und auch der Klempner nicht erklären kann, warum meine Klospülung jault – da gibt’s keine Zufälle.
Möllemann war gerade in den Tod gesprungen. Friedman eben beim Koksen erwischt worden. Hohmann hatte über die »Juden als Tätervolk« gesprochen. Drei unterwegs – in ihren Deals zwischen Leben und Tod. Und dann diese zehn toten Tauben im Rothschildpark!
Und mir wurden im Café Centro (Achtung! Nähe Hauptbahnhof! Frankfurt, die vielleicht gefährlichste Stadt Deutschlands!) –, also mir entnahm eine Gruppe eingespielter Gaukler der über die Stuhllehne gehängten Lederjacke (braun, Wildleder, in Dänemark gekauft) die Brieftasche. Sie gelangte blitzschnell zurück, um zwei Geldkarten erleichtert, was ich noch am gleichen Abend merkte und … Aber dies ist eine langweilige Geschichte aus dem Leben in der vielleicht gefährlichsten Stadt Deutschlands. Tote Tauben und tote oder verwirrte Männer sind spannender.
Friedman provoziere den Antisemitismus, hieß es. Möllemann sei sowieso ein Antisemit, hieß es. Hohmann sei – was? Ein ganz Schlimmer, weil er aussprach, was der hessische CDU-Wähler über 50 denkt?
Muß nicht sein. In der Beliebigen Republik Deutschland ist immer alles auch anders. Möllemann war ein Freund Israels. Friedman immer schon ein Freund der Friseure. Hohmann hat schon als Jungchrist gekokst. Aber zehn tote Tauben im Rothschildpark – sind in Zeiten der globalterroristischislamistischepidemischen Bedrohung zehn Tauben zuviel. (Zur Vogelgrippe komme ich gleich.)
Wehret den Anfängen! Deutsche Tauben – vergiftet im Rothschildpark? Merken Sie was? In Zeiten der gesteigerten Wachsamkeit, zumal in der gefährlichsten Stadt Deutschlands, muß alles mit allem gedacht werden. Immer einen Schritt voraus, sonst erwischt es einen. Wissen ist vonnöten, Bildung ist das Kondom der Emsigen im Umgang mit der Welt.

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Mayer Anselm (so in Dennert’s Konversations-Lexikon) oder Mayer Anschelm (so in Bertelsmann- und auch Meyers-Universal-Lexikon) lebte von 1743 bis 1812 in Frankfurt am Main. Er begründete ein Bankhaus und war seit 1801 der Hofagent des Kurfürsten von Hessen. »Seine 5 Söhne gründeten Bankgeschäfte in Paris, London, Wien, Neapel und erwarben große Reichtümer.« Das Haus Rothschild gewann »in der 1.Hälfte des 19. Jh., bes. durch die Finanzierung von großen Staatsanleihen, großen polit. Einfluß in Europa; es besteht heute noch in Paris u. London.«

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In der Zeitung vor drei Jahren stand: »Die Vögel lagen auf einer Wiese, einige von ihnen waren bereits tot, andere am Verenden.« Die Polizei ging nicht von einem fremdenfeindlichen Motiv aus. Der Taubenmord ging demnach nicht auf das Konto neonazistischer Tierschützer. Er war vermutlich auch nicht das Werk einer arabischen Terroristengruppe, die aus dem Schlaf erwacht noch etwas orientierungslos schlaftrunken durch Frankfurt torkelte und blind um sich mordete. Aber weil seit dem 11. September 2001 alles anders ist, die Sonne sich um die Erde dreht, die Vögel bellen und die Hunde zwitschern, müssen zehn tote Tauben ernst- und als ein Zeichen genommen werden. In der vielleicht gefährlichsten Stadt Deutschlands geschieht nichts ohne einen denkbar fiesen Grund in einem noch fieseren Zusammenhang. Nichts ist mehr, wie es war. Noch mehr nicht ist nichts mehr, wie es war, nach den zehn toten Tauben vom Samstag vor drei Jahren.

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Der Rothschildpark war einmal der Garten einer Rothschild-Villa. »Er hat in den 60er Jahren Land verloren an die ersten Bürohochhäuser. Der Park ist eine hübsche gepflegte Insel, und mittendrin stehen Georg Kolbes sieben Bronzefiguren ›Ring der Statuen‹.« (Marco Polo, 5. aktualisierte Auflage 2001) Herr Kolbe, in Sachsen geboren, schuf vornehmlich »weibl. u. männl. Aktfiguren mit empfindsam-anmutiger Gestik u. Physiognomie«. Sagt Bertelsmann. Meyer fügt hinzu, daß Kolbes Werk »zum festen Bestandteil der realist. deutschen Plastik im 20. Jh.« gehört.
In Zeiten allgemeiner Bildungsmattigkeit schlägt man gern nach und pulvert sich auf. Denn Koks ist nicht, das hat Michel weggeschnupft. Ins antisemitische Horn möchte man auch nicht blasen, derlei Hingabe an den schlechten Geschmack durch die Zeiten ist peinlich und macht fauligen Mundgeruch. Und der Kick, den der freie Fall beim Fallschirmspringen verschafft, kostet Geld und mitunter das Leben. Bleibt das Nachschlage-, Lehr- und überhaupt Buch als erlaubte und von den weitsichtigen Politikern der Beliebigen Republik Deutschland gepriesene Droge.

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Meiner Ansicht nach, ist Frankfurt am Main eine der harmlosesten und liebenswürdigsten Städte Deutschlands. Was andere noch vor sich haben, hat Frankfurt hinter sich. Etwa Taubentod und Vogelgrippe.
»Das Standesgesundheitsamt und der Amtstierarzt sind eingeschaltet, einige der Tiere zur Untersuchung sichergestellt«, schrieb die Zeitung vor drei Jahren. Einige der Tiere – und was war mit den anderen? Blieben sie liegen? Landeten sie in den Abfallkörben oder in den Bratpfannen der Bedürftigen? Wurden sie vor Ort verbrannt oder in Plastiksäcke gesteckt?
Ist nicht wichtig, wirklich nicht. Ich bin sicher, daß die Tauben ein Opfer der Vogelgrippe waren. Ich bin sicher, daß Standesgesundheitsamt und Amtstierarzt umsichtig und diskret die Vogelgrippe in Frankfurt besiegt haben, indem sie die Tauben entcodierten und H5N1 in ein Flugzeug nach Peking setzten. Dort sollte das Virus den Wirtschaftseifer der Chinesen bremsen und dem Rest der Welt eine Chance geben, aufzuholen. Hat nicht geklappt. H5N1 kehrt zurück. Aber nicht nach Frankfurt am Main, da kennt man den Kollegen und sperrt ihn sofort in den Körper einer toten Taube im Rothschildpark. So überaus gefährlich die Stadt ist, so überaus pfiffig ist sie auch. Und sie hegt, wie Heinrich Heine wußte, »viel Narrn und Bösewichter«.