von Wolfgang Sabath
Da es immer wieder das gleiche Spiel ist, sollte sich unsereins eigentlich schon längst daran gewöhnt haben. Hat es aber nicht. Als ver.di jüngst die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes zum Streik gegen eine Verlängerung der Arbeitszeit aufrief, schickten landauf, landab die dafür zuständigen Fernseh- und Zeitungsleiter turnusmäßig ihre Redakteure in die Spur. Volk sollte befragt werden. Auf der Straße, im Laden, auf dem Markt, in der Fußgängerzone. In grauer DDR-Vorzeit nannte man das »Stimmensammeln«: zur Kartoffelernte, zum Imperialismus, zur Kommunalwahl, zum Frieden, zu Adenauer oder zu Juri Gagarin. »Stimmensammeln« war bei Redakteuren nicht sonderlich beliebt; besonders Pfiffige (oder Faule) wußten sich zu behelfen, sie dachten sich »Stimmen« aus. Was kaum auffiel, allerdings nach der Wende gelegentlich sogar Bestandteil von Biographien wurde, der Widerständigkeit wegen. Redakteure der Heutzeit haben es in dieser Beziehung leichter, und wenn es um Streiks geht – und gar um Streiks im Öffentlichen Dienst! – allemal. Welcher gemeine Bürger hat schon gern übervolle stinkende Mülltonnen vor seiner Tür, wer vermißt nicht den Bus, die Straßenbahn, wer steht gerne in Ämtern oder Kindergärten vor geschlossenen Türen. So gesehen, sind solche Umfragen geradezu Selbstläufer, die eingesammelten Bürgerstimmen müssen überhaupt nicht mehr oder kaum noch »bearbeitet« werden. Liegen sie doch fast immer nahezu kongruent auf jener Linie, die deutsche Medien in Sachen Streik geschlossen einzuhalten sich verabredet zu haben scheinen. Das Schlechtreden von Gewerkschaften gehört in Deutschland inzwischen zum guten Ton. Das ist quasi mit eine der erfolgreichsten PR-Kampagnen der deutschen Nachkriegszeit. Allerdings hat die Gewerkschaftsbonzokratie daran ein gerüttelt Maß Mitschuld; auf lange eingeschreint wird kritischen Gewerkschaftern zum Beispiel jene Argumentation bleiben, mit der die Berliner ver.di-Landeschefin Stumpenhusen einst die Erhöhung ihres Gehalts von 12000 auf 14250 Mark gerechtfertigt hatte: Sie müsse schließlich auf »Augenhöhe« mit der Arbeitgeberseite verhandeln können. Ist der Ruf erst ruiniert … Kurzum: Es konnte gar nicht ausbleiben, daß Tenor fast sämtlicher »Stimmen« war: Die öffentlich Bediensteten sollen sich nicht so haben, an 18 Minuten täglicher Mehrarbeit sei noch kein Müllfahrer oder keine Kindergärtnerin gestorben. Was natürlich stimmt – aber haarscharf (und von den Medien wohlkalkuliert) an der eigentlichen Problematik vorbeiging. Denn diese 18 Minuten kosten unter dem Strich tausende Arbeitsplätze.
Die Ansichten von Vertretern der Arbeitgeberseite können hier insofern unberücksichtigt bleiben, als sie, so lange ich denken kann, immer das gleiche sagen, da unterscheiden sich die Unternehmerverbände überhaupt nicht vom öffentlichen Arbeitgeber; die Standardfloskel lautet: ›Ein Streik zum jetzigen Zeitpunkt …‹, und so weiter. Wobei sie uns seit jeher natürlich generell im Unklaren darüber lassen, welchen Zeitpunkt für einen Streik sie denn für den richtigen gehalten hätten …
Trotz dieser Kontinuitäten haben wir immer wieder ausreichend Gelegenheit, uns zu wundern. Zum Beispiel über das Auftreten, die Forderungen, die Unverfrorenheiten der deutschen Ackermänner, die durch keinerlei demokratieverdächtige Prozedur legitimiert sind. So etwas muß auch so einem »authentischen Konservativen« (Die Zeit) wie Alexander Gauland gegen den Strich gehen. Gauland, Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung in Potsdam, nahm sich neulich in einer Gastkolumne im Tagesspiegel jene deutschen Wirtschaftsliberalen vor, die meinen, Angela Merkel habe in der Großen Koalition zu viele Kompromisse gemacht. Gauland schrieb dazu unter anderem: »Sie werfen die Karten auf den Tisch … und fordern neue Regeln. Denn – so ihr Credo – Ökonomie ist wissenschaftliche Realität und also durch Mehrheitsentscheidungen nicht veränderbar. Folglich müsste die neue Kanzlerin auch in dieser von den Wählern dummerweise herbeigeführten Konstellation richtige, also neoliberale Politik betreiben. Dass das letztlich auf die Abschaffung der Demokratie hinausläuft, bleibt ungesagt.« Es seien übrigens, schreibt Gauland, »oft dieselben liberalen Ökonomen, die Putin für seine neue Staatswirtschaft kritisieren … Krähwinkel ist eben auch dort, wo Wirtschaftslobbyisten noch jede Abweichung von ihren Wünschen als Verstoß gegen die Gesetze des Marktes … anprangern.«
Das Regulativ Öffentlichkeit scheint immer wirkungsschwächer zu werden. Nicht, daß es nicht regelmäßig in Stellung gebracht würde (siehe Gauland); aber es ist gemeinhin – Ausnahmen jederzeit möglich – auf die Feuilletonseiten und beim Fernsehen in den späten Abend verbannt. Aber im wesentlichen haben sich die bereits erwähnten »Stimmensammler« und das Gros der öffentlich-rechtlichen Kommentatorenschaft in Rundfunk und Fernsehen mit den Gegnern von Streiks und Arbeitskämpfen verbündet. Streikende haben hierzulande keine Lobby. Den Vogel schoß neulich ein »Tagesthemen«-Kommentator vom NDR mit dem schönen Hinweis ab, die Lage sei doch nun einmal so, daß »wir alle zurückzustecken« hätten.
Ich weiß natürlich nicht, wann, wo und inwiefern dieser Kollege zurückzustecken hat(te), bin mir aber sehr sicher, daß er einen eventuellen Hinweis zur der Höhe seines Gehaltes oder seines Honorars als puren Populismus ansähe und mit der Replik konterte, das sei doch nun wirklich etwas vollkommen anderes. Vielleicht hätte er diese seine Meinung verbrämt, indem er sie eleganter formulierte.
Doch nicht auf einen Vogel, sondern auf einen ganzen Vogelschwarm brachte es Alt-Chefredakteur Erich Böhme während einer Talkshow bei Maybritt Illner mit dem Motto »Renten, Jobs und Glaubensfragen«. Erich Böhme beglückte mit erstaunlichen Bekenntnissen und Ratschlägen, die sehr sinnfällig jene Plattitüde (manchmal auch als Volksweisheit gehandelt) bestätigten, der zufolge Alter nicht vor Torheit schütze. Böhme schwärmte unter anderem davon, wie die soziale Frage in Amerika – er meinte die USA – gelöst sei: Jeder habe dort inzwischen begriffen, daß er für sich verantwortlich sei und sich im Alter nicht auf staatliche Leistungen verlassen könne. Das nun aber führe – nachahmenswert! – dazu, daß es viele Menschen, die nicht mehr arbeiteten, dort als normal ansähen, sich nach einem Zuverdienst umzusehen: »Und zwar unabhängig von ihrem bisherigen sozialen Status – einer macht den Hausmeister, der andere trägt Pakete aus, der nächste fegt die Gasse.« Die Gewerkschafterin Engelen-Kefer, neben der hessischen Stimmungskanone postiert, fragte: »Was tun Sie denn – Pakete austragen oder Straße kehren?« Böhme: »Kolumnen schreiben.«
Womit wieder einmal klargeworden wäre: »Wir«, das sind immer die anderen.
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