Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 20. Februar 2006, Heft 4

Stolpersteine

von Frank Hanisch

Ich hole Marie im Teesalon Roter Horizont ab; Marie, die ich liebe, ohne zu fragen – seit damals, als ich mir verloren schien, die Nächte kalt und trüb waren, so wie heute, und es den Roten Horizont noch nicht gab.
Bergamotte-Aroma in Porzellanschälchen und heiße Schokolade, auf der sich immer wieder Häutchen bilden. Manche Menschen mögen das. Manche Menschen brauchen es, sich einmal in der Woche über Mißstände im Institut und die Unfähigkeit (der anderen) unzensiert auszuschimpfen. Heute sitzen nur noch Adam und Anna mit am Tisch. Kaum bin ich herangetreten und habe gegrüßt, hält mir Adam diskussionsfreudig einen spanischsprachigen Fachartikel unter die Nase.
»Minus validos steht hier – die Minderwertigen, in diesem Zusammenhang die intellektuell Minderbegabten. Und das in der Sprache eines demokratischen Gemeinwesens im 21. Jahrhundert!«
»Tu as raison. Les invalides« kontere ich französisch, »wörtlich die Unwerten, im Sinne von versehrt sein, diesen Begriff gibt es auch noch.«
Wir zwei, Marie und ich, brechen auf. »Mir kam in den Sinn«, sagt Marie, »wie bizarr die Konstellation heute Abend war: Vor sechzig oder siebzig Jahren hätte man uns alle drei vergast: Mich, die als Kind epileptische Anfälle hatte, damals unbehandelbar und erbkranker Nachwuchs, Adam, den polnischen Intellektuellen und Anna, die russische Jüdin. Und nur zehn Jahre später gibt es Medikamente, einen polnischen und einen jüdischen Staat. Einfach monströs.« Marie mit ihrer Gabe, sich schwermütigen Gedanken hinzugeben, ist den Tränen nahe. Ihre Hand fühlt sich klein und weich an.
Es ist Freitagnacht, Winternacht, der Schein der Laternen taucht Altstadtgassen in bernsteinfarbenes Licht. Gelegentlich müssen wir einem Mann, der an die Hauswand uriniert, und Gruppen von Teenagern, die Bauzäune umwerfen, ausweichen. Eine Freitagnacht im Zentrum von Halle an der Saale.
Aus der erstarrten Lava zu unseren Füßen, Granit und Asphalt, tauchen gleich Pretiosen messingfarbene Platten auf, einzeln, paarweise, gar drei mit einem Mal. Die Messingplatten sind neu hier in Halle. Wir kennen die Stolpersteine aus Frankfurt, aus München, aus Berlin: Name, Geburtsdatum, Sterbedatum, Sterbeort. Pflastersteine zum Gedenken an die während der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten jüdischen Bewohner. Oder einfach Mitbürger? Dr. Leo Lewinski, Jg. 1878, deportiert 1943, Theresienstadt, tot 15.04.1943. Stenographische Existenz. Manche Namen bieten keinen so sicheren Aufschluß: Harry Alexander, Jg. 1903, Heilanstalt Bernburg, ermordet März 1942, Buchenwald, T4-Aktion. Für einige endete die letzte Fahrt in Bernburg, der anhaltinischen Euthanasieklinik.
Die Laternenstrahler der Hochstraße werfen Lichtkegel in Altstadtquartiere mit so merkwürdigen Namen wie Brunos Warte und Jerusalemer Platz. Der vietnamesische Imbiß hat geschlossen. Drinnen spielt der Händler mit seiner Tochter Tischtennis. Vor dem verriegelten Gebrauchtwarenladen in meiner Straße hat sich ein älterer Mann mit einer riesigen Fellmütze niedergelassen. Neben ihm steht ein Recorder, aus dem die Berliner Messe von Arvo Pärt erklingt. Wir werfen eine Münze ein. Kalt ist uns. Wir treten ins Haus.