Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 20. Februar 2006, Heft 4

Der eigene Hammer

von Martin Nicklaus

Jede Gesellschaft benötige etwas, auf dem alle herumtrampeln können, glaubte Paul Nolte und begann, an ihren Fundamenten zu graben. Was er dort fand, nannte er Unterschicht. Bekanntheit erlangte der Begriff im Zusammenhang mit Fernsehen; aber Harald Schmidt, der wochenlang darauf herumritt, will inzwischen nichts mehr gesagt haben. Ihm ging wohl irgendwann die Nähe zur Untermenschideologie auf.
Nolte nicht. Unterschicht seien Menschen, die zu sehr vom Staat abhängen, erklärt der Beamte Nolte und meint Arbeitslose. Sein Credo, verkündet im Deutschlandradio Kultur: »Jeder sollte zumindest versuchen, seinen eigenen Hammer in die Hand zu nehmen und das Eisen zu schmieden.« Unterschichtler seien an ihrer Lage selber Schuld, denn ihnen mangele es an Bildung. Armut bestehe neuerdings nicht mehr im Portemonnaie, sondern im Geist, schreibt der Stern. Das ist insofern neu, als Malthus im 19. Jahrhundert erklärte, die Armen seien an ihrer Armut selber schuld, weil sie das Ergebnis zu vieler Kinder sei.
Gibt es in Deutschland also gar keine zehn Millionen Arme, keine 1,7 Millionen Kinder, die von Sozialhilfe leben, sondern nur zu viel Doofe? Sofort krauchen unter allen Steinen Experten vor und fordern mehr Bildung, womit sie lediglich Wissensvermittlung meinen. Schade, daß die Experten selbst nur über bescheidenes Wissen verfügen. Sonst wüßten sie, wieviel zahllos Gutausgebildete auf Arbeitsplätzen für Geringqualifizierte sitzen, da Stellen für jene fehlen; sie wüßten, daß bei mehr Wissensvermittlung die Intelligenteren profitieren und damit die Unterschiede in der Qualifikation weiter anwachsen. Zudem gibt es, im Gegensatz zu Jobs die grundsätzlich fehlen, bei jedem Menschen Grenzen der Lernfähigkeit ähnlich dem Wachstum oder der Fähigkeit, schwere Lasten zu heben. Mancher wird nie bis drei zählen lernen. Deshalb ist er kein schlechterer Mensch. Nur der Kapitalismus sortiert ihn als ersten Verlierer aus.
Den geistigen Horizont Paul Noltes kann nur der erspähen, der, über gewaltige gymnastische Fähigkeiten verfügend, tief in die Hocke gelangt. Nolte meint, wer seine Arbeit verliert, nehme eben für ganz wenig Geld eine neue auf, und der Staat zahle halt etwas dazu. Wo der aber das Geld hernimmt, wie der Rückgang sozialversicherungspflichtiger Anstellungen aufzuhalten ist und wie ein hochentwickeltes Gemeinwesen auf der Basis von lauter Minilöhnen existieren kann, haben andere zu klären.
Seine Welt sind die Phrasen, immer schön neoliberal. Jeder sei seines Glückes Schmied. Zweck des Unternehmens sind Funktionen eines Blitzableiters: das Verwischen der staatstragenden Strukturen, die Aufspaltung der Bevölkerung in jene, die bereits ihre Arbeit verloren haben, und die, die das fürchten, woraus resultiert: Jeder solle weniger fordern und mehr leisten. Außerdem wird so der Frust über den Zustand der Gesellschaft kanalisiert, weg von den Verantwortlichen hin zu jenen, die darunter leiden. Kurz: Asoziale Politik benötigt Sündenböcke: Wehrlose. Wilhelm Heitmeyer erklärte das in der Zeit so: »Das machtlose Verzagen gegenüber den Starken schlägt um – abgewertet werden die Schwachen. Hinter dieser Abwertung verbirgt sich eine Art Selbstaufwertung in unsicheren Zeiten.«
Noltes Bruder im Geiste, der ebenfalls staatlich alimentierte Neoliberalissimo Professsor Sinn, will die Bezüge bei Arbeitslosengeld II weiter senken. Damit würden zwar irgendwann die Empfängerzahlen fallen, weil die Leute verhungern, aber dann würde auch die Unterschicht mit den entsprechenden Folgen für das darauf ruhende scheinheilige zivilisatorische Gebäude verschwinden. Dann wäre der Mittelstand unten.