von André Herzberg
Die zentrale Einkaufsstraße in Weißenfels ist die Jüdenstraße. Hier wechseln sich die Nationalitäten der Inhaber ab wie anderswo im Osten Deutschlands auch. Neben den billigen Vietnamesen gibt es das große Eiscafé. Ein Musikerdenkmal, wo man an den Armen und Beinen spielen kann, steht dort, ein paar Bänke und Mülleimer.
Ich saß bei einer Zigarrette und dachte über die jüdische Geschichte der Stadt nach. In der jüdischen Gemeindebibliothek Berlin fand ich das Buch Ich will leben von Reinhard Schramm, eines Nachfahren dieses Kapitels von Weißenfels. Minutiös sind die Schicksale Weißenfelser Juden bis zu ihrer totalen Auslöschung nachgezeichnet, der Autor wohnt inzwischen auch nicht mehr hier. Es ist eine »normale«, weit verbreitete, typische Geschichte einer deutschen Kleinstadt. In der Nordstraße, in einem heute unbewohnten Haus fand ich die Reste des ehemaligen Betraums. Hier, im früheren industriellen Teil der Stadt trafen sich damals die Handvoll Juden zum Gottesdienst. Neben der Eingangstür befindet sich ein Hinweisschild aus DDR-Zeiten, darauf ein aufgeklebter Zettel: Zigeuner raus. Ich stieg über den rückwärtigen Zaun, denn das Gebäude liegt auf dem Hof. Das Dach ist eingefallen, die Tür vermauert, an einem blinden Fenster ein Davidstern, aus silberner Folie.
Der Stadtfriedhof von Weißenfels ist groß. Mittendrin, auf drei Seiten abgegrenzt durch einen kleinen Zaun, ein Feld von 10 x 30 Metern, die jüdischen Gräber – hoffentlich durch die evangelische Nachbarschaft besser behütet als anderswo. An der Marienkirche am Marktplatz findet sich eine verblichene Inschrift auf Lateinisch. Nur durch das Buch von Reinhard Schramm erfuhr ich von ihr. Es ist von der ersten Vertreibung der Juden die Rede, damals.
Dann gibt es noch das Haus Marktgasse 21, gleich neben der Jüdenstraße und der Kirche, unten ist ein Geschäft für Hörgeräte. Der kleine Max Fränkel hat hier gewohnt, es gibt ein Foto im Buch von Schramm, das ihn gemeinsam mit Vater und Großvater vor ihrem häuslichen Geschäft zeigt. Später war er lange Jahre Chefredakteur der New York Times. Er beschrieb auch in einem Buch Erinnerungen an Weißenfels, war zu DDR-Zeiten hier, und ich frage mich, ob ihn jemand heute noch mal in sein ehemaliges Zuhause einladen würde.
Man hat die Namen der jüdischen Opfer der Nazizeit an einem antifaschistischen Denkmal im Stadtpark nachgetragen, Ende der achtziger Jahre. Sie sind unter dem Wort vom Holocaust zu finden. Mir erscheint es merkwürdig, daß es dafür kein deutsches Wort gibt. Die Juden von Weißenfels waren ebenso wie anderswo religiös oder auch nicht, arm oder reich, rechts oder links, verheiratet mit Nichtjuden, dumm oder schlau, moralisch oder unmoralisch. Erst mit dem Stempel Jude, mit dem Gesetz kam das Schicksal. Dieser Gedanke bereitet mir heute noch zuweilen erhebliche Schwierigkeiten mit Ordnung und Gesetz.
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