von Franz Zauleck
Am 21. Oktober habe ich mein Notizbuch verloren. Ich habe es in der Bahn, zwischen Berlin und Interlaken, liegen gelassen. Ich habe mit dem deutschen und dem schweizerischen Fundbüro telefoniert, ich werde es nicht mehr wiedersehen. Ich habe im Atlas gesucht und gesehen, daß es von Interlaken gute Zugverbindungen in die ganze Welt gibt. Im Osten geht es über den Bosporus bis nach Ulan Bator. Im Süden über Reggio di Calabria bis nach Marrakesch.
In meinem Notizbuch befanden sich unter anderem kleine Texte über meinen Freund Gerhard Oschatz, winzige Beobachtungen, bruchstückhafte Mitschriften und eine feine Sammlung von Zitaten. Ich stelle mir vor, daß das Notizbuch gemeinsam mit Zeitungen und Pappschachteln in eine Papiermühle in Marrakesch oder Ulan Bator verfrachtet wurde und daß ein Mann das schwarze Buch vor dem Einweichen und Zermahlen gerettet und nach Hause getragen hat. Vor dem Schlafengehen dürfen die Kinder in Ulan Bator oder Marrakesch in meinem Notizbuch blättern und die Zeichnungen und Collagen betrachten. Sie lesen auch die Texte, und ich stelle mir vor – sie verstehen sie sogar. Die Kinder lesen also die Geschichten von Gerhard O., sie lesen Sprüche und Aussprüche, die ich notiert habe. Sie lesen winzige Dialoge. Auf meine Mitteilung, daß ich in der kleinen uckermärkischen Stadt Lychen zu tun habe, die prompte Warnung: »Lychen haben kurze Beine!« Gerhard Oschatz reagiert auf jede Silbe. Seine Lust am absurden Ergänzen, Drehen und Erweitern von Worten, Sätzen, Namen ist unstillbar.
Wechselnde Völker ziehen durch Gerhard Oschatz’ Wohngebiet. Er ist wahrscheinlich der Seßhafteste unter den Bewohnern der Choriner Straße in Berlin. Obwohl selbst ein Zugezogener, gilt er den Neuen als Eingeborener. Er legt den Finger an die Nase, schaut die Straße hinauf und hinunter und sagt: »O!« Die Volksstämme, die durch die Choriner Straße ziehen und dort Quartier nehmen, sind noch nicht die Kinder von Marrakesch oder Ulan Bator. Noch kommen sie vom Westen, aus Schwaben und vom Niederrhein. Noch kann die Sparkasse an ihn schreiben: »Sehr geehrter Herr Ostschatz!«
Wenn die Kinder von Ulan Bator oder Marrakesch eines Tages die Choriner Straße besuchen werden, bringen sie – so stelle ich es mir vor, ein Märchen mit.
Es lebte einmal ein alter Müller, so beginnt das Märchen. Gerhards Vater war Müller. Das hatte ich notiert. Und – ich erzähle kein Märchen – Gerhard ist wirklich der jüngste Müllerssohn. Das hatte ich auch notiert. Der Vater verteilt das Erbe. Der älteste Sohn bekommt die Mühle. Der Jüngste muß ziehen. Er erbt den Kater. Der Kater ist ein Nichtsnutz und ein schlechter Mäusefänger. Ihm gehört eigentlich das Fell abgezogen. Aber er kann sprechen. Der Jüngste ist ein Katerversteher. Ein Glück für beide: den Kater und den Jüngsten.
Die Müllerskinder! »Rickeracke! Rickeracke! Geht die Mühle mit Geknacke.« Eichendorffs Taugenichts ist ein Müllerssohn. Wir kennen den traurigen Maler Müller, Müller-Thurgau den heiteren, Schuberts Schöne Müllerin und Heiner Müller, den freundlich Unerbittlichen. Mit den Müllern hat es eine besondere Bewandnis. Der Kater frißt die Zaubermaus und zieht mit dem Müllerssohn – das Wandern ist des Müllers Lust! – von Jena über die sieben Berge nach Berlin, die Hauptstadt der Fledermäuse. Der Kater bleibt auf dem Alexanderplatz stehen und streckt die Vorderpfoten aus. Er zeigt nach da und nach da. »Da ist die Philosophie und da die Zeichnerei. Da und da.«
Ein Gedicht von Gerhard Oschatz beginnt mit den Zeilen: Große Kreise dreht die Mühle. Die Fische warten unterm Eis. Müllerssöhne sind nicht von schlechten Eltern. Gerhard Oschatz trägt keine italienischen Designerjacken, keine verwegenen Hüte und schon gar nicht gelbe Schuhe. Aber immer, wenn es etwas feierlicher als alltäglich wird, sieht man unter der praktischen Windjacke eine sorgfältig gebundene Krawatte, nicht auffällig, aber da. Dieses unscheinbare Signal ist er seinem Herkommen schuldig. Er braucht keine gelben Schuhe, er hat diese blaugraue Krawatte.
Seinem Talent schuldet er, daß er nichts vergißt. Gerhard Oschatz wird nicht müde, zu mahnen, daß das Erinnern nicht von außen, sondern von innen kommt. Wahrhaftigkeit ist vor allem eine ästhetische Verpflichtung. Wer eine Begabung hat, kann sich damit auch das Leben versauen. Jemand kann sich unbeliebt machen, wenn er hartnäckig-freundlich darauf besteht, daß eine Geschichte vom Anfang und nicht vom Ende her zu erzählen ist. Gerhard Oschatz rennt nicht gegen Windmühlenflügel. Nein, so etwas würde ein Müllerssohn nicht tun. In seinem Lindenbuch Ich stelle mir den Himmel vor finde ich den anrührenden Satz: »Am Lustgarten steht ein Stein, für welche, die den Krieg verhindern wollten. Ich setze mich in die Sonne.« Als wir uns vor zwanzig Jahren kennenlernten, sagte er unablässig zu mir: Nutze die Zeit, suche die Form, verteidige sie, bleibe bei dir! Heute – wo ich ihn gut kenne – weiß ich, daß es nicht nur die wohlmeinende Einrede eines Kollegen an einen Kollegen war. Seine Forderungen waren immer auch Selbstermahnungen. Er hat sich daran gehalten. Er hat die Form gesucht und verteidigt, er ist bei sich geblieben und er nutzt die Zeit, so gut er kann.
Über Vorbilder habe ich Gerhard niemals befragt. Ich weiß aber, daß er die formstarken und pointensicheren Meister besonders verehrt: André Francois, Saul Steinberg, Jiri Salamoun, Ralph Steadman. Alles Leute, die anscheinend völlig anders arbeiten als er. Auf den zweiten Blick jedoch erkennen wir die Verwandschaft. Hier arbeitet ein Spezialist der Tarnung: Was so leicht daherkommt, ist geprüft und geklärt. Keine Form ist zufällig. Die Mutter eines Schülers, die die Arbeiten des Lehrers Oschatz gesehen hatte, versuchte den Vorhang zu heben: »Herr Oschatz, Sie zeichnen wie Schwimmer.« Gerhard brauchte für die Antwort nicht eine Sekunde: »Ich bin Nichtschwimmer.«
Große Kreise dreht die Mühle. Die Fische warten unterm Eis. Der Müller geht sich jetzt rasieren. Das reimt sich nicht. Ich weiß, ich weiß. Im diesem Jahr sind viele Zeichnerphilosophen gestorben. Einige liegen todkrank danieder. Von F. K. Waechter, der im September starb, gibt es eine wunderbare Szene: Ein Spanner im Baum beobachtet ein vögelndes Paar. Der Liebhaber reißt das Fenster auf und schreit: »Du Schwein! Wenn ich dich kriege!« Der Spanner im Baum ruft: »Sie waren einsame Spitze!« Der Mann im Fenster sagt: »Das sagt sie mir nie!« Hier spricht die Not des einsamen Zeichners. Diese Sehnsucht, daß es einer mal sagt!
Wir sind gekommen, um es Dir zu sagen. Rede für Gerhard Oschatz, vorgetragen am 9. Dezember 2005 in Bernau, anläßlich der Eröffnung einer Ausstellung von Zeichnungen von G. O.; bis zum 18. Februar 2006.
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