Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 23. Januar 2006, Heft 2

Der Linksdeichgraf

von Ove Lieh

Es kann nur einen geben auf der Deichkrone, der die Sandsäcke wirft in die Gerechtigkeitslücken des Alltags, durch die die Flut der Gesellschaftszersetzung einzuschießen droht. Nur sein Sand und nur seine Säcke taugen dazu.
In der DDR gab es einen Witz über einen Ausreisewilligen, der angab, in die DDR ausreisen zu wollen. Darauf hingewiesen, daß er dort doch schon sei, antwortete er, nicht diese zu meinen, sondern jene, von der er im Neuen Deutschland immerzu lese. An diese Geschichte fühlte ich mich erinnert, als Matthias Platzeck über die SPD, deren Vorsitzender er inzwischen geworden ist, erzählte. In diese Partei könnte nämlich sogar unsereiner eintreten. Nicht nur, weil sie einen sehr an die eigene frühere erinnert, denn sie ist eine Einheitspartei (»Partei der inneren Einheit«; »Sie ist und bleibt die unteilbare Sozialdemokratische Partei in unserem Lande«), die jeden mitnimmt und keinen zurückläßt (»Kein einziges Kind dürfen wir zurücklassen. … daß wir tatsächlich alle Menschen meinen, wenn wir von Lebenschancen sprechen«), die einen Alleinvertretungsanspruch postuliert (»Wenn wir uns nicht um diese Aufgaben kümmern, kümmert sich niemand in diesem Land darum. Wir sind es, die genau diese Lebenshaltung (das heißt »links« im Sinne des Ministerpräsidenten – O.L.) haben …, und nicht die Lafontaines dieser Welt«), und die ein sehr »tolerantes« Verhältnis zu ihrer eigenen Geschichte hat (»Wir – und tatsächlich nur wir – sind ohne Wenn und Aber die Partei der einen und zusammengehörenden Gesellschaft in Deutschland. Wir sind die Partei der Lebenschancen für alle. Wir, die Sozialdemokraten, sind die Partei des sozialen Zusammenhalts, die Partei der Chancengleichheit, die Partei der inneren Einheit Deutschlands, der Solidarität und der Nachhaltigkeit … Wir sind auch immer – und werden es immer sein – die Partei der Aufklärung und des Fortschritts gewesen. Uns geht es um die soziale Durchlässigkeit unserer Gesellschaft, um Aufstiegschancen für alle, uns geht es darum, daß das Leben aller Menschen nach vorne hin offen sein muß, und nicht bereits vorbestimmt ist durch Geburt, durch den Geldbeutel oder Postanschrift der Eltern. Das werden wir in unserem Land nie zulassen, liebe Genossinnen und Genossen«. Und eine Friedenspartei sei die SPD auch, jedenfalls seit dem Zweiten Weltkrieg, behauptet unserer wackerer Deichgraf, obwohl er es besser wissen könnte, als Ossi zumal. Es hört sich alles sehr gut an, es stimmt eben nur vorn und hinten nicht!
Ich sage ihm nicht vor, doch, vielleicht … nur ein paar Stichworte: Arbeiterpartei, Kriegskredite 1914, Noske, Tucholskys Texte über die Weimarer Zeit, Zörgiebel, Schumacher, Oberleutnant Schmidt, Hartz IV, Sozialarbeit in Vereinen und anderen Organisationen usw. usf.
Es ist falsch zu fordern, die SPD dürfe sich nicht mit sich selbst beschäftigen, im Gegenteil sie muß es tun, weil sie nicht ist, wie sie hier dargestellt wird und sich vielleicht sogar selber fühlt. Denn es scheint: Der Herr Deichgraf füllt den Sand nicht in die Säcke, sondern streut ihn in die Augen.