von Olaf Brühl
Rhythmisch mit dem Kopf wippende Konzertbesucher, die Solistin durchpulst von den Stakkatoakzenten der Streicher, mitgerissen im Schwung schmetternder Trompeten – dann wieder begeistert wie eine Bluessängerin swingend: So endete der Abend mit Cecilia Bartoli in der bis zum letzten Platz gefüllten Philharmonie in Berlin. Standing ovations, vier Zugaben, Jubel, Winken zum langen Abschied, Sympathiewogen hin und her, auf denen der Besucherstrom nach zweieinhalb Stunden römischer Musik das Haus in die Berliner Kälte verläßt …
Worauf nur beruht die unvergleichliche Magie der Barockmusik, die uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts so ungebrochen fasziniert? Drei Momente machen vielleicht ihren Reiz besonders aus. Es ist und bleibt diese terra incognita, auf der sich immer wieder Neues entdecken läßt und geheimnisvollerweise auch das scheinbar Bekannte sich in überraschenden Perspektiven anders zeigt. Barockmusik ist im Grunde eine Art Neuer Musik, nichts Museales, Distanziertes. Das Musiziermaterial, abhängig von Instrumentarium, Gattung, Temperament, Zeit und Ort, ist eine glatte Herausforderung an die Kreativität aller Interpreten. Sie verlangt aktuelle Entscheidungen. Oft weiß man einfach nicht mehr genug über die damalige Praxis, oft bezeichnet der Notentext nurmehr eine Art Gerüst der Aufführung, oft sind Improvisationslust und musikalische Phantasie für eine heutige Realisation des Werkes Voraussetzung. Quasi sind alle Parts solistisch. Das hat mit Lust zu tun, die sich mit genauer Kenntnis paart, mit Reaktionsvermögen – und mit Witz. So rückt Barockmusik auffallend nah an den Jazz, an traditionelle Volksmusik und an bestimmte Formen Neuer Musik. Es gibt keine untergeordneten Werte, alles hat transparent und gleichberechtigt zu sein.
So wird Barockmusik von einem interessanten Aspekt bestimmt. Die extreme Einheit der für uns auseinanderdriftenden Pole Spiritualität und Sinnlichkeit. Ein enormes Erfahrungspotential, ob weltlich oder geistlich, ob konzertant oder dramatisch. Ein Gleichnis. Sie spiegelt und verkörpert die gegensatzgeladene Harmonie der Welt, harmonia mundi. Und dieser Begriff war eine selbstverständliche Grundlage des Kompositionshandwerks jener Epoche.
Rom zu Anfang des 18. Jahrhunderts, die Welthauptstadt der Musik, wo alles singt und tanzt. Schon sind wir bei dem päpstlichen Opernverbot. Ein neuer Papst, sehr kultiviert und gelehrt. Ein eitler Papst, ein intriganter, ein schwacher Papst. Der Kirchenstaat in außenpolitischer Bedrängnis, Rom von Erdbeben und Krisen erschüttert. Man greift in die sakrale Trickkiste: Heilige Jahre werden verkündet, Bußezeiten – schon wird der berühmte Römische Karneval verboten und alle Theateraufführungen – insbesondere die Oper! Einigermaßen verständlich, wenn man weiß, daß die öffentlichen Theater gleichzeitig als Gasthäuser, Spielhöllen, Kontaktbörsen und Bordelle dienten. Doch das alles verbieten im heiteren, vergnügten Rom? Letztlich funktioniert es nicht.
Bis heute nicht. Man braucht einen Werbetrick, der heißt: Verbotene Oper. Aber Cecilia Bartoli singt keine verbotene Musik, weder auf ihrer neuen CD noch im Konzert. Alles ist erlaubt. Denn es wurde ja nur in Auftrag gegeben und nur komponiert, was auch realisiert und bezahlt werden konnte. Die Römer wußten sich zu helfen, mit Gegentricks. Man gab Oratorien, geistliche Dramen – diese fast wie Opern: mit prächtigen Kulissen und Gewändern, in den Palästen Roms, nur ohne szenisches Spiel. Der Text war poesievoll religiös, die Musik sinnenfroh und, wie die Aufführungen selbst, geladen mit sehr viel Erotik. Damals hätte aber selbst eine Cecilia Bartoli kaum eine Chance gehabt. Das Auftreten von Frauen war ausdrücklich untersagt: keine Zurschaustellung weiblicher Verlockungen. Kastrierte Jünglinge sangen die Frauenpartien. Man hatte den Teufel mit Beelzebub ausgetrieben. Es knisterten nicht nur die Seidenstoffe. Doch diese Zeiten sind vorbei!
Um so größere Chancen hat Cecilia Bartoli im Berlin von heute. Sie ist keine Konzertdiva. Der berühmte Funken, nach dem auch das Zürcher Spezialorchester benannt ist, das sie mitreißend begleitet, La Scantilla, springt über, nicht zuletzt, weil die Frau ihre Begeisterung für diese Musik kaum zu bändigen scheint und ihre Freude daran von Anfang an alle ansteckt. Natürlich singt sie perfekt – wie auf ihrer CD –, natürlich funkeln die Koloraturen punktgenau, voller Ausdruck und Wärme. Musik, die einen Grad von Orgiastik erreicht, überströmend von Vergnügen, Leidenschaft, Tiefe. Die Zeit verfliegt. Manchmal ist es, als ob Bartoli über sie zu triumphieren versucht, wenn sie in der Stille des Raums ihrem Gesang eine entrückte Präsenz verleiht.
Sie selber ist auf Entdeckung nach den vergessenen Werken Alessandro Scarlattis und Antonio Caldaras gegangen, hat sich mit den Quellen befaßt und präsentiert ihre Schätze mit berechtigtem Stolz – denn die beiden alten Römer haben großartige Musik geschrieben, und der junge Sachse aus Halle, Händel, mit Anfang zwanzig (!), nicht minder, wie in seinem ersten Oratorium vom Triumph der Zeit und Desillusionierung – geniale Melodien, die sogar eine Barbara Streisand in den Siebzigern noch erfolgreich zu verballhornen wußte. Cecilia Bartoli ist auf jeden Fall zu danken, daß sie nicht eine von denen ist, die sich von Plattenfirmen ewiggleiche Programme diktieren lassen, sondern ihre weltweite Popularität, ihren – auch vokalen – Sexappeal nutzt, um neue alte Kostbarkeiten der Allgemeinheit zu gewinnen. Mit Glück!
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