Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 19. Dezember 2005, Heft 26

Mit Rücksicht auf gewisse Nebenumstände

von Brigitte Struzyk

Es ist Freitag, der 1. Juli 2005, und ich habe noch keinen Bescheid für das nächste halbe Jahr.
An der Kreuzung Grenzallee/Sonnenallee nehme ich eine Zeitung von der Bank. Für alle Fälle. Im Kreuzworträtsel vom 30. Juni werden über Kreuz die Synonyme für Furcht und Elite verlangt: schreibe also Angst und Auslese! Kein Geld, kein Sozialticket, kein Garnichts.
Jobcenter Neukölln, Wartebereich 3:
Ob ich hier zwischen den spielenden Kindern und zahllosen Kunden richtig bin? Es war so laut in der Eingangshalle, am langen, langen Tresen, der langen, langen Bank, hinter dem zehn Angestellte sitzen, weiterschieben, und vor denen die Menschenschlangen sich winden. Hat die Angestellte wirklich drei gesagt oder doch zwei? Beide Wartebereiche nehmen sich nichts in ihrem Vorhöllencharakter.
Eben hat der Bundeskanzler Schröder den Bundestag um das Mißtrauen gebeten. Das braucht er unbedingt, wie er sagte, um die Arbeitsmarktreformen durchzusetzen.
»Hab dich, hab dich!« rufen die noch fröhlichen Kinder, die zwischen den Wartenden Fange spielen und immer lauter ihre Spielfreude ausdrücken. Ich höre meine Großmutter sagen, Übermut tut selten gut, und da kracht es schon. Ein Zusammenstoß, Geschrei, während die gleichzeitig im Großraumbüro agierenden Agenten der Agenda 2010 ihre dünnen Stimmchen durchzusetzen versuchen. Zugegeben, die Namen der Kunden sind oft Zungenbrecher und hinterlassen in der Luft, die man in Stücke schneiden könnte, eine Schneise, die sich mit Fernweh füllt. Auf der grauen Auslegware zwischen den terracottafarbenen viereckigen Säulen haben sich kleine Sitzgruppen gebildet, denen nur noch der Grill fehlt. Das Wochenende steht bevor, doch der neue Monat ist angebrochen, das zweite Halbjahr von Hartz IV, das man nicht in die Röhre gucken will.
Ich gehe auf und ab, betrachte mir die Bearbeiterinnen und Bearbeiter und frage mich, wie sie es wohl aushalten können zwischen alledem, durch das die adrett gekleideten Sicherheitsbeamten patrouillieren. Sie erinnern mich an die frommen jungen Männer, die hin und wieder heuschreckenartig (!) in Berlin einfallen, jene, die dir dann in der U-Bahn gegenübersitzen und mit ihren Ansteckern und Werbematerialen versichern, du seiest noch zu retten, mit Jesus Christus kannst du es schaffen! Weißes Hemd und schwarze Hose. Die hier eingesetzten Männer sind oben hellblau und unten schwarz. Am Ärmel tragen sie einen Aufnäher. POWER kann ich entziffern. Ein großer Blonder dieser Heilsarmee greift von den Fensterbänken Formulare ab und trägt sie in den Wartebereich Zwei. An der Durchgangstür spricht ihn eine junge Orientalin an, die ihre Haarpracht offen zeigt und bauchfrei geht. Er berät sie freundlich.
Vor mir, am Platz vier, links, stellt eine junge Frau, mit Kopftuch und Gewand, nach Aufruf ihren Zwillingswagen ab und fällt auf den Kundenstuhl. Geschrei. Der Zwillingswagen kippt um. Lauteres, verzweifeltes Geschrei. Wie in Trance steht die Mutter auf und bringt wieder alles in Ordnung. Sie ist schon über den Berg, dort, wo man keine Nerven mehr braucht.
Ich brauche sie noch, meine Nerven, als ich endlich aufgerufen werde nach vier Stunden Warten, und die Sachbearbeiterin, eine schöne Blondine, nach dem Blick ins Bildschirmlabyrinth mir bestätigen muß. »Ja, da ist noch nichts geschehen. Was machen wir da?« Das fragt sie so offen treuherzig, daß es mir fast nahegeht. Ahnung vom Eigentlichen kommt auf. Es riecht nach Schwefel. Ich muß in meinem Gesicht einen Abglanz dieser Ahnungen gezeigt haben, sonst würde sie nicht so eilfertig werden. »Ich verspreche Ihnen, am Montag liegt Ihr Antrag auf dem Tisch und wird sofort bearbeitet!«

11 Tage später, am 11. Juli, montags.
Im Morgenmagazin wird direkt aus dem Bundestag berichtet. Hier, selbst da, stehen Arbeitsplätze, der Neuwahlen wegen, auf dem Spiel, und für alle Fälle hat die Agentur für Arbeit schon einmal ein Sonderamt vor Ort eingerichtet. Das sei aber keine privilegierte Bedienung, wenngleich all die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die vermutlich zu tun hatten mit der Verabschiedung der Hartz-IV-Gesetze, selbst wenn sie diese nur kopieren mußten, ohne Sonderamt mit der Praxis hätten konfrontiert werden können. Ganz ahnungslos sind sie ja nicht. In mancher Talkshow hat sich schon mal einer von ihnen geoutet, er habe sogar in der eigenen Familie so einen Fall! Meist hatten die Bekenntnisse so einen Unterton: schrecklich, diese Schicksale! Sie kommen, wie der Terror, schon bis vor die eigene Haustür!
Nun weiß ich zwischen allen dort, die in dem neuen Kaiser-Haus beim Reichstag arbeiten, wenigstens eine, die ich sehr schätze, und ich ahne, daß auch die anderen nicht als Wichsvorlage für den guten alten Klassenkampf dienen sollten. Ich weiß, mit wie viel Hingabe sie die Bildschirmschoner in blühende Landschaften verwandeln. Sie werden verdorren! Die Helfer und Weber, die Wahrer und Streber werden Opfer ihrer eigenen Geschöpfe.
All das geht mir durch den Kopf, als ich wieder vor dem Tresen stehen, wieder die POWER-Heilsarmee bewundern darf, die mir als die eigentliche Seele vom Geschäft erscheint.
Geradezu freundlich beraten die Blauschwarzen die Hilfesuchenden. Am Tresen keine Auskunft. Wieder Wartebereich 3.