Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 19. Dezember 2005, Heft 26

Atmosphärische Veränderung

von Kurt Merkel

Der Wetterbericht spricht von Sonne, von Nebel und von Regen. Ich stecke in dickem Nebel. Wenden ist aber auf der schmalen Straße, die sich bei Pacifica an der Steilküste entlangschlängelt, nicht möglich, zumal sie da noch durch eine Dauerbaustelle verengt wird, wo nun ein Tunnel durch den Fels gebrochen wird. Nochmals zehn Meilen weiter halte ich in Half Moon Bay und laufe stundenlang bei sommerlichen Temperaturen den Strand entlang. Glück mit dem Wetter hatten die Veranstalter eines Konzerts zu Ehren der verstorbenen Hippie-Legende Chet Helms auf den Speedway Meadows im Golden Gate Park. Zwanzigtausend aller Altersgruppen kamen, darunter auch die Fans aus der guten alten Zeit mit den langen Haaren hinter den höher gewordenen Stirnen, die auf ihren Harleys heranknatterten und dafür sorgten, daß über der Wiese sich der süßliche Geruch der Joints ausbreitete. Das war anderentags auch die richtige Atmosphäre für die Halloween Party der Schwulen und Lesben in dem Viertel um die Castro Street. Die Polizei sprach von 300000 Besuchern.
Nicht so viele Teilnehmer hatte eine Demonstration, die dazu aufrief, Bush aus dem Amt zu jagen, die aber wesentlich größere Aufmerksamkeit durch die Polizei erhielt. Täglich standen die Namen der amerikanischen Gefallenen des Irakkriegs in den Zeitungen, man fieberte dem Tag entgegen, an dem der Name des zweitausendsten seit März 2003 im Irak Getöteten veröffentlicht würde, als wäre das ein Signal für Veränderungen. Es war der am 22. Oktober umgekommene 34jährige Sergeant George T. Alexander Jr. Am 10. November, dem Tag meiner Abreise, standen aber schon die Namen der Gefallenen Nummer 2049 bis 2055 auf der Liste. Dazu kommen 15 220 Verwundete, etwa jeder Zweite von ihnen ist nicht mehr diensttauglich.
Vorangetrieben wurde die Diskussion um Bush und den Irakkrieg vor allem durch die Affäre um die gezielte Enttarnung der CIA-Agentin Valerie Plame, der Frau des Diplomaten Joseph Wilson, der die Lüge über den angeblichen Versuch Saddams, in Niger an für das Atomwaffenprogramm benötigtes Uranerz heranzukommen, platzen ließ. Der Fernsehkommentator und frühere Kommunikationsberater mehrerer Präsidenten David Gergen faßte die Entwicklung am 28. Oktober so zusammen: »Der Prozeß um die Frage, wie wir in diesen Krieg gekommen sind, hat begonnen.« Am 1. November mußte der Senat auf Forderung der Demokraten zu einer geschlossenen Sitzung zusammentreten und beauftragte da einen Ausschuß, einen Bericht darüber vorzulegen, ob Spitzenpolitiker der Regierung bewußt falsche Informationen verwendeten, Der Leitartikler Martin F. Nolan sieht von nun an Präsident Bush als »Lahme Ente«, die aber noch drei Jahre zu regieren habe. Andere fordern von der Regierung, mit 150 Milliarden Dollar ein Entschädigungs- und Wiederaufbauprogramm zu finanzieren und sich aus dem Irak zurückzuziehen, das sei billiger als die Fortführung der verfehlten Politik. Verstärkt wurde diese Stimmung durch den Skandal um die Verhörmethoden und das Unterhalten geheimer Gefangenenlager unter anderem in osteuropäischen Ländern. Das Pentagon mußte eine neue Direktive für den Umgang mit Gefangenen erlassen, was aber die Situation nicht entspannte, da Bush sich gegen ein Folterverbot aussprach und Cheney bei der Vorlage eines Gesetzes zum Verbot von Folter und inhumaner Behandlung die Nichtanwendung des Gesetzes auf Aktivitäten der CIA verlangte.
Auch in anderen Politikbereichen erwies sich Bush unfähig, seine Absichten durchzusetzen. Auf der amerikanischen Gipfelkonferenz in Argentinien scheiterte er mit dem Plan einer panamerikanischen Freihandelszone am Widerstand der größten südamerikanischen Länder Brasilien und Argentinien, denen es gelang, ihre Position, daß der Freihandel mehreren südamerikanischen Ländern schade, in der Schlußdeklaration unterzubringen. Bush war schon vor dem Konferenzende abgereist.
Zum absoluten Desaster aber wurde Bushs Versuch, die Anwältin und Vertraute seiner Familie Harriet Miers für einen Sitz im Obersten Gericht zu nominieren. Sie mußte ihre Kandidatur zurückziehen. Nicht nur wegen des Widerstands der Demokraten, die sie wegen ihrer ultrakonservativen Positionen, zum Beispiel trat sie für die Festschreibung des Abtreibungsverbots in der Verfassung ein, ablehnten. Eine Mehrheit von Bushs Republikanern fühlte sich intellektuell beleidigt von der Zumutung, Miers ohne erkennbare Befähigung dafür, nur wegen ihrer Bush-Beziehungen in das einflußreiche Amt zu befördern. Martin F. Nolan hat wohl recht, wenn er meint, nicht Miers sei das Ziel der republikanischen Attacke gewesen: »Das wirkliche Ziel ist Bush. Er hat seine Kritiker von rechts enttäuscht, weil er unpopulär wird.«
Die politischen Gewichte verschieben sich. Weitere Veränderungen liegen in der Luft. Die Irakpolitik Bushs ist unwiderruflich Gegenstand der inneren Auseinandersetzung geworden. Die erhebliche Zuspitzung der Haltung der USA zu Syrien und dem Iran macht zugleich die in dieser Entwicklung liegenden Gefahren sichtbar, zeigt sie doch, wo Präsident Bush einen Ausweg aus seiner Bedrängnis suchen könnte. Am 7. November brachen die USA fast sämtliche Beziehungen zu Syrien mit der Begründung ab, das Land verhindere nicht das Eindringen von Terroristen in den Irak und unterstütze radikale Palästinensergruppen.