Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 19. Dezember 2005, Heft 26

Arbeit hat Vorfahrt

von Ove Lieh

Die Beamten werden nach dem Willen der Koalition zukünftig länger arbeiten müssen. Arbeit, vor allem Mehrarbeit, hat eben Vorfahrt. In diesem Fall vor Freizeit. Sie hat aber auch Vorfahrt vor Neueinstellungen und Lohnerhöhungen, vor Kündigungsschutz und eigentlich allen Arbeitnehmerrechten. Wenn jemand die Wahl hat, zur Kur zu fahren oder zur Arbeit, fährt er lieber zur Arbeit, denn auch da hat sie Vorfahrt.
Übrigens hatte mein Kumpel Harry damals auch Vorfahrt. Ich lege ihm heute ab und zu Blumen aufs Grab. Man sollte und darf sich die Vorfahrt eben nicht erzwingen. Das gilt auch für die Arbeit. Wenn es zum Beispiel um Unternehmensgewinne geht, kann die Arbeit natürlich keine Vorfahrt mehr haben. Oder weiß jemand ein erwähnenswertes Beispiel für Gewinnverzicht zugunsten von Arbeitsplätzen? Im Gegenteil, Telekom und Co. machen Rekordgewinne und bauen dennoch Arbeitsplätze ab, um diese Gewinne weiter zu erhöhen. Auch vor dem Sparen hat die Arbeit keine Vorfahrt, siehe Arbeitsplatzabbau im öffentlichen Dienst. Oder nehmen wir die Umstrukturierung von Behörden. Die ehemalige Bundesanstalt für Arbeit wurde so lange umstrukturiert, bis sie nicht nur (fast) niemanden mehr in Arbeit brachte, sondern sogar ihre eigene Arbeit, zum Beispiel Zahlungen an Arbeitslose, kaum noch erledigte. Hätte dort Arbeit Vorfahrt gehabt, dann hätte man Logo und Struktur gelassen und sich lieber daran aufgerieben, sinnvolle und anständig bezahlte Arbeit für die Leute zu schaffen. Beim Arbeitsamt hatte also bisher nicht einmal Sparen Vorfahrt. Das wird jetzt anders, weil natürlich Sparen in Zukunft Vorfahrt haben muß. Und Reformen natürlich und Steuersenkungen, die haben auch Vorfahrt, genau wie Arbeit. Sagen Sie nicht, wenn alle Vorfahrt haben, müßte das zu Kollisionen führen. Fahren Sie mal in Paris Auto, was jetzt eigentlich viel einfacher geworden sein müßte, weil es ja weniger Autos gibt, da hat auch jeder Vorfahrt, und es geht.
Und außerdem hat, glaube ich, ein alter Bekannter von mir recht, der sagte: »Wenn alle ein bißchen Obacht geben, kann man auch bei Rot fahren!« Dann wartet eben der, der eigentlich Vorfahrt haben sollte.
Genauso ist das mit der Vorfahrt für Arbeit.