von Gerd Kaiser
Dem Einmarsch der Wehrmacht am 1. September 1939 in Polen gingen ab April Schubladenentwürfe des Generalstabs des Heeres voraus. Die Verwirklichung seiner »operativen Planung« im Fall Weiß bezeichnete Generalstabschef Franz Halder als »Flurbereinigung«. Schubladenentwürfe unter den Tarnbezeichnungen Tannenbaum, (1940 gegen die Schweiz), Aida (1942 gegen Ägypten) und Gisela (im Sommer 1942 zur Besetzung von Spanien und Portugal) sowie etliche andere bezeugen die Selbstüberschätzung deutscher Generalstäbler. Indes: Schubladenentwürfe sind eine Berufskrankheit von Militärs aller Nationen und jeglicher politischer Konfession.
Allerdings werden Schubladenentwürfe nur selten publik. Erst wenn es um ihre Realisierung geht, kommt an das Licht der Sonnen, was so fein gesponnen. Natürlich nicht immer und natürlich nicht alles. So blieben zum Beispiel die Schubladenentwürfe der US-Regierung vom Herbst 1956 jahrzehntelang »Top secret« (von Eingeweihten mit dem ironischen Zusatz kommentiert: »To destroy before reading«). Außenministerium, Chef war John Foster Dulles, Auslandsspionage, Chef war Bruder Allen Dulles, und der Oberste im Kollegium der Vereinten Stabschefs (Joint Chiefs of Staff), Admiral Arthur Radford stimmten 1956 ihre Schubladenentwürfe über das Vorgehen der USA in dieser konfliktgeladenen Zeit untereinander ab.
Ein militärischer Einmarsch in Polen, ja, in Osteuropa, wurde für möglich erachtet. Seinerzeit waren die USA stark an einer Festigung der Position Wl⁄adysl⁄aw Gomul⁄kas interessiert, so wie sie schon 1948 an einer Festigung der Position Jozip Broz Titos unter dem Stichwort »Nationalkommunismus« interessiert gewesen waren. Das strategische Ziel 1948 wie 1956 war es, den sowjetischen Einfluß in Ost- und Südosteuropa zurückzudrängen. Notfalls auch mit Krieg.
Am 26. Oktober 1956 »beurteilten die einzelnen Mitglieder« (des Nationalen Sicherheitsrates der USA) die Möglichkeiten »der endgültigen Ablösung des sowjetischen Einflusses in den Satellitenstaaten durch eine Westorientierung«. In diesem Zusammenhang nannte Allen Dulles den Ereignisverlauf in Ungarn »ein Wunder«. Die USA hielten einen sowjetischen Einmarsch in Polen, ähnlich wie in Ungarn, für möglich. Am 9. November 1956 verfaßte der Politische Planungsstab des Außenministeriums ein Memorandum. Vorgeschlagen wurde, unmittelbar nach einer für möglich gehaltenen sowjetischen Intervention im Sicherheitsrat der UNO eine Resolution durchzudrücken, die den Generalsekretär beauftragte, sich unverzüglich nach Polen zu begeben. (Ein diesen Vorstellungen entsprechender Mißbrauch der UNO erwies sich erst Jahrzehnte später, im Falle des Einmarsches von USA und Großbritannien im Irak, als nicht mehr möglich.)
Am 13. November 1956 faßte die US-Regierung weitergehende Beschlüsse. Der Punkt 15 bezog sich auf militärische Optionen. Für möglich gehalten wurde die Anwendung militärischer Mittel sowohl in Polen als auch gegen die UdSSR, dort unter anderem durch den Einsatz der Kräfte des Strategischen Bomberkommandos. Dieses war in der Lage, Atombomben auf Ziele in der UdSSR abzuwerfen; die Strategischen Raketentruppen verfügten erst später über diese technische Möglichkeit.
Der Joint Chiefs of Staff unter Admiral Radford legte fest: »a) Die militärische Intervention der UNO in Polen kann erfolgen. b) Die USA sollten daran in dem Umfang beteiligt sein, der zur Erreichung der Ziele der UNO erforderlich ist. Anfangs ist der Einsatz der in Europa stationierten Luftstreitkräfte vorzusehen, welche die sowjetischen Nachschublinien und sowjetische Flugplätze angreifen.«
Der naheliegenden Gefahr des damit beginnenden weltweiten Konflikts wollte man illusorischerweise dadurch begegnen, daß das »Abschreckungspotential« von NATO und Polen (unter Gomul⁄ka!) so hochgeschraubt werden sollte, damit es ausreiche, um die UdSSR zu veranlassen, sich »zurückzuziehen«. Eine Denkschrift vom 30. November hielt es bereits »für möglich, die Militärmacht von USA und NATO« unter dem Dach der UNO »nicht in ihren Zielen und ihren Methoden einzuschränken«. Ein spezieller Schubladenentwurf sah beispielsweise die Landung der Marineinfanterie der US Army in der Danziger Bucht vor, dort, wo mit anderen Zielen und unter anderen Bedingungen auch 1939 der Weltkrieg nach diversen Schubladenentwürfen begonnen hatte. Ein weiterer amerikanischer Schubladenentwurf von 1956 verlieh der Hoffnung Ausdruck, daß eine »Revolte in Ostdeutschland und der Tschechoslowakei sowie die Wiederbelebung des ungarischen Aufstands den Durchmarsch der Truppen der Vereinten Nationen (…) nach Polen ermöglichen werde.«
Erfreulicherweise richtet sich der tatsächliche Geschichtsverlauf nicht immer nach Schubladenentwürfen.
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