Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 10. Oktober 2005, Heft 21

Radfahrer

von Ove Lieh

Vogelzwitschernd steht der Wald und schaut mir, soweit er Augen hat, beim Radfahren zu. Er gehört zu den wenigen Zuschauern, die mich nicht zu unsinnigen, kraftraubenden Zwischenspurts treiben, die ich spätestens am nächsten Anstieg bitter bereuen und mit Schmerzen bezahlen muß. Besonders verlockend sind vor einem herfahrende, nach äußerem Schein schwächere Fahrer, die man entweder schnell überholt oder eine Weile vor sich her treibt, sich an ihren fruchtlosen Bemühungen zu entkommen weidend. Bei Fußgängern und Autofahrern sind Möglichkeiten der Selbstdarstellung wegen der Kürze des Überholvorgangs beziehungsweise der eigenen Rolle als Überholter enorm eingegrenzt. Und die Radfahrer grüßen einander nicht mehr.
Ich meine, wenn die SPD keine Radfahrer mehr grüßt, weil sie mal mit einem Probleme hatte, wäre das zu verstehen. Sie hat sich ja auch von den Proletariern verabschiedet, weil die ihr zu schwierig sind, und Radfahrer sind ja noch komplizierter, denn sie haben nicht nur ihre Ketten zu verlieren, sondern können auch einen Platten haben, oder keine beziehungsweise eine defekte Luftpumpe, oder die Bremsen versagen, und sie fallen auf die Schnauze, was ja sinngemäß der SPD auch gerade passiert. Und der Kapitalismus kann derweil seine Auswüchse ungehemmt in deutsche Betriebe stecken und sie so zerstören. Wieso allerdings dieses vergleichsweise harmlose, weil untödliche Auswachsen des Kapitalismus so schwer genommen werden soll, versteht man nur mit Radfahrerlogik, die sich für einstellbare Lenkervorbauten mehr interessiert als für AIDS oder Krieg. Für Hunger schon, den kennt sie allerdings vor allem als Ast, den man nicht haben sollte.
Ich aber grüble, wieso man das konsequente Realisieren der inneren Logik einer Gesellschaft als deren Auswüchse bezeichnet, während man gleichzeitig dieser inneren Logik durch umfassende Privatisierungen auf allen Gebieten zur Geltung verhelfen will. Ich habe Zeit zum Grübeln, denn die meiste Zeit bin ich allein mit dem Wald unterwegs, das heißt er scheint nur unterwegs zu sein, weil er mich fast die ganze Strecke begleitet. Irgendwann aber kommt er nicht mehr mit und bleibt stehen. Bis zum nächsten Mal. Zwischendurch fliegt der Reiher auf, weil ich ihm zeitlich genau und örtlich nahezu, weil am Bach entlang, buchstäblich durch die Mahlzeit fahre.
Ärgerlich klatschen seine Flügel aneinander, während er, wie mir scheint, betont mühsam an Höhe gewinnt, tiergestalteter Vorwurf an den menschlichen Störenfried sozusagen.
Der aber ist in Gedanken bei seinen Mitmenschen, deren einer vor ein paar Minuten grußlos an ihm vorbeigefahren ist. Als Entgegenkommender versteht sich. Was ist daran noch entgegenkommend? Und auch beim Joggen ist ihm das aufgefallen, daß die Sportler einander nicht mehr grüßen. Jedenfalls nicht mehr alle. Das mag daran liegen, daß ein Teil der durch die Gegend Hampelnden keine Sportler sind, sondern Irregeführte, die mit aller Macht zu versuchen scheinen, ihren adipösen Leib mit soliden Gelenkschäden auszustatten, so daß ein eventueller Gewichtsverlust vor allem auf Knorpelschwund an den Gelenkflächen zurückzuführen wäre. Dabei werden teure Nordic-Walking-Stöcke fernab jeder Technik materialschonend durch die Gegend getragen, was angesichts des enormen Preises dieser Geräte (zumindest im Fachgeschäft) nur zu verständlich ist. Und diese Menschen, die alles machen, nur keinen Sport, grüßen nicht den sportlichen Kollegen, der ihnen entgegenkommt, noch weniger natürlich den, der überholt. Sein Verhalten dürfte in ihren Augen als geradezu verfassungswidrig gelten, weil die Würde des Überholten, quasi Besiegten verletzt wird, obschon natürlich in der Verfassung nicht steht, daß die Würde des fetten Menschen auch unverletzlich wäre. Angesichts der Körperfülle einiger weite Wege watschelnder Zeitgenossen könnte man rein statistisch locker von den Würden zweier Menschen sprechen, von denen im Grundgesetz auch nichts steht.
Doch gestört wird mein Grübeln von der Schwäche meines kleinen Mobilradios, welches entweder dauernd den Sender wechselt oder keinen findet. Alle vier Kurbelumdrehungen krächzt mich etwas anderes an, Nachrichten, Opern, Schlager, die ich wegscanne, weil sie einem das Fett von der Kette schmelzen lassen, oder auch Rock und Pop, die ich beide gar nicht sicher unterscheiden kann. Musik gefällt mir aber manchmal auch – wenn ich sie keiner Kategorie zuordnen kann. Das ist mir aber schon ein wenig peinlich.
Doch dieses Gefühl verfliegt angesichts der baldigen Heimkunft, die frohlockend sich avisiert in Gestalt der Randgebäude meiner Heimatsiedlung. Dann stelle ich mein Fahrrad in die Hütte, reinige meinen Körper vom Sportschweiß und spüle alle schweren Gedanken der Fahrt von mir ab und kehre zurück in die schwerelosen Gefilde meines Alltags, in dem mich viele Leute grüßen, mir egal ist, wenn mich einer überholt und ich dem Reiher ganz selten in die Quere komme.