Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 24. Oktober 2005, Heft 22

Orangener Spaltpilz

von Roland M. Richter, Kiew

Kaum hatte der ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko nach seiner USA-Reise wieder Kiewer Boden betreten, schon sorgte er für einen Paukenschlag: Er entließ die Regierung unter Julia Timoschenko. Allerdings kam dies so ganz unerwartet nicht. Die abenteuerliche Wirtschaftspolitik der Regierung war auch im Ausland sauer aufgestoßen, die lauthals verkündete Reprivatisierung hatte Investoren verschreckt, die Wirtschaft geriet in die roten Zahlen, die Inflation insbesondere bei Nahrungsmitteln und Tarifen sorgte für Unmut in der Bevölkerung. Zu offenkundig war die Bevorzugung bestimmter Finanzgruppen, die dem russischen »Dissidenten« Beresowskij, einem der großzügigen Finanziers der »orangenen Revolution«, nahestehen. Die Differenzen innerhalb der neuen Elite waren nicht zu übersehen.
Juschtschenko vertritt die Interessen des ausländischen, insbesondere amerikanischen Kapitals. Seine Aufgabe besteht in der Schaffung eines sicheren und gewinnträchtigen Klimas für ausländische Investoren, in der Hineinführung der Ukraine in die NATO als Aufmarschgebiet gegen den Mittleren Osten und als Speerspitze gegen Rußland. Darin hatte er bisher versagt, nicht zuletzt wegen seiner Premierin Timoschenko. Alles, was diese unternimmt, ist der Befriedigung ihres individuellen Machtstrebens untergeordnet – was sie allerdings ausgezeichnet hinter populistischen Losungen und einem eloquenten Auftreten zu verbergen vermag. Ihr Ziel ist ein auf ihre Person zugeschnittenes politisches und wirtschaftliches System. Diesem Ziel war selbst der Versuch der Umverteilung des privatisierten Staatseigentums aus den Händen der bisherigen Elite, die zum Umfeld des Ex-Präsidenten Kutschma gehörte, hin zu Kapitalgruppen, die interessanterweise alle direkte oder indirekte Verbindungen zu Beresowskij aufweisen, untergeordnet.
Offensichtlich war dies den Kreisen um Juschtschenko von Anfang an klar. Sie benötigten im Kampf um die Macht aber Frau Timoschenko, sowohl ihre Begabung zur Massenmanipulation als auch die Sturmabteilungen des ihren Namen tragenden politischen Blocks und nicht zuletzt  ihre Finanzquellen. Um sie unter Kontrolle halten, weitete Juschtschenko als eine seiner ersten Amtshandlungen noch im Januar 2005 die Aufgaben des »Nationalen Sicherheitsrates« zu einer Art Schattenregierung aus und setzte seinen Vertrauten Poroschenko als Chef ein. Im Gegenzug lancierte Julia Timoschenko ihren Mann Sintschenko als Staatssekretär in den Apparat des Präsidenten. Als stellvertretenden Chef des ukrainischen Sicherheitsdienstes setzte sie einen Mann aus der Führung ihrer Partei ein. Diesem oblag es, die Opposition unschädlich zu machen und Poroschenko zu neutralisieren.
Die wirtschaftliche Talfahrt, das sinkende Ansehen der Regierungschefin und die nahenden Parlamentswahlen brachten Julia Timoschenko in Zugzwang. Gegenüber dem Präsidenten beschuldigte Sintschenko Poroschenko der Korruption. Juschtschenko verwarf die Anklage, woraufhin Sintschenko demonstrativ von seinem Posten zurücktrat. Doch Juschtschenko, soeben aus den USA zurückgekehrt, ging selbst in die Offensive und entließ Frau Timoschenko nebst Regierung. Als ausgleichende Geste schickte er Poroschenko in den Ruhestand. Offenbar fühlte sich die schöne Julia unersetzlich, sah ihre Chancen im beginnenden Wahlkampf schwinden und bot sich sofort wieder an, die neue Regierung zu bilden.
Darauf ging Juschtschenko allerdings nicht ein. Er zog einen Ersatzkandidaten aus dem Ärmel: den Wirtschaftsfachmann und Ökonomieprofessor Juriy Jechanurow. Diesen stellte er im Parlament zur Abstimmung … und zog in der ersten Abstimmung den kürzeren. Die Opposition, zahlenmäßig durch Abgeordnete des Blocks der Julia Timoschenko (BJuT) verstärkt, ließ Juschtschenkos Kandidaten durchfallen.
Nach dem Motto, was einmal Erfolgt zeitigte, funktioniert auch weiterhin, und wenn die Abstimmung zum falschen Ergebnis führte, wird eben noch einmal abgestimmt, erreichte Jechanurow dann doch die erforderliche Anzahl der Stimmen. Dafür hatte Juschtschenko allerdings mit der Opposition um seinen Gegenspieler Janukowitsch einen Deal machen müssen. Er war gezwungen, ein Tolerierungsabkommen zu unterzeichnen, quasi eine politische Generalamnestie für die ehemalige ukrainische Führung. Diese Aktion hat dem Ansehen des Präsidenten in den Augen seiner radikalnationalistischen Anhänger stark geschadet. Viele von ihnen, vor allem aus den Kreisen der Intelligenz und der Jugend, scharten sich nun um so fester um die Ex-Premierin.
Die neue Regierung unter Jechanurow zeigt kaum personelle Unterschiede zur früheren unter Timoschenko – mit einer bedeutenden Ausnahme: Es ist kein Parteigenosse Timoschenkos mehr vertreten. Der BjuT mußte sich von der Macht verabschieden und drückt nun die Oppositionsbänke.
Interessant war im Parlament bei der zweiten Abstimmung das Stimmverhalten zum Kandidaten Jechanurow : Die Kommunisten und die Vereinigten Sozialdemokraten nahmen an der Abstimmung nicht teil. BjuT stimmte uneinheitlich – die für Jechanurow stimmenden Abgeordneten wurden umgehend aus der Partei ausgeschlossen. Die Fraktion Einige Ukraine stimmte ebenfalls uneinheitlich, allerdings ohne Konsequenzen für die Parlamentarier. Mit Ja stimmten die Volkspartei, Janukowitschs Partei der Regionen, Juschtschenkos Unsere Ukraine, die Sozialisten, die Fraktionen Vorwärts, Ukraine, Reform und Ordnung, der Unternehmerpartei und die Ukrainische Bewegung Ruch. Den Ausschlag gaben wie so oft kleinere Fraktionen und fraktionslose Abgeordnete. In diesem Zusammenhang ist die Verlautbarung eines »unabhängigen« Volksvertreters zu Stimmenkäufen während der Kutschma-Ära interessant: Je nach Bedeutung der Abstimmung soll einzelnen Mitgliedern des Parlaments zwischen zehntausend und hunderttausenden von US-Dollars für eine regierungskonforme Abstimmung gezahlt worden sein. Es darf bezweifelt werden, daß sich in dieser Beziehung in Kiew sehr viel geändert hat.
Vor dem neuen Premier stehen zwei Aufgaben: die Wirtschaft aus der Talsohle herauszuführen und ein freundliches Klima für ausländische Investoren zu schaffen, damit die Aufnahme der Ukraine in die Welthandelsorganisation noch in diesem Jahr klappt. Doch die Hauptaufgabe ist, Juschtschenkos politischer Bewegung den Sieg bei den Parlamentswahlen im März 2006 zu verschaffen … und dies ohne oder auch mit Frau Timoschenko. Kiew ist immer für eine Überraschung gut!