Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 12. September 2005, Heft 19

Auf gute Nachbarschaft!?

von Wladimir Wolynski, Moskau

Es ist jetzt gut ein Jahr her, daß der Außenminister unseres westlichen Nachbarns, Polens, Włodzimierz Cimoszewicz äußerte:« Die Schaffung von Perspektiven für eine Mitgliedschaft von Ukraine, Moldawien und Belorußlands in der Europäischen Union und in der NATO ist unser strategisches Ziel Nummer 1 (…) In der Europäischen Union müssen wir eine Lobby der Länder schaffen, die ähnlich über die Ostpolitik denken.«
Rußland kommt in diesen »strategischen« Überlegungen zwar nicht direkt, wohl aber indirekt vor: als Feind Nummer 1! So empfindet man es zumindest in Moskau. In die gleiche Kerbe haut Polen, wenn es die Lage der polnischen Minderheit in Belorußland benutzt, um Druck auf diesen Nachbarn auszuüben, dessen Präsident Lukaschenko die wirtschaftlichen und politischen Geschicke seines Landes eng an Rußland gebunden hat. Nicht Cimoszewicz legte in Belorußland die Lunte ans Pulverfaß, sondern Donald Tusk, ein Präsidentschaftskandidat in Polen.
Und der vormalige Chef des polnischen Geheimdienstes UOP Zbigniew Siemiatkowski zieh den Nachbarn Rußland nicht mehr und nicht weniger als des »wirtschaftlichen Imperialismus« gegen Mitteleuropa, weil es für Erdöl und Erdgas Weltmarktpreise verlange und Polen nicht frage, wie das seine Bodenschätze an die Kunden bringt. Ja was denn sonst? Als ob Rußland etwas zu verschenken hätte … Gegen Ende des inzwischen vergangenen Hochsommers kam es zu einer Art Medienkrieg zwischen Polen und Rußland, weil in Polen russische Kinder geohrfeigt und in Rußland polnische Medienvertreter geschlagen worden waren. Man fühlte sich in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg zurückversetzt. Selten, wenngleich dringend wünschenswert, wären in Rußland und in Polen nüchternere Stimmen, die trotz aller unterschiedlichen Positionen und trotz aller differenzierter Interessen auf Verständigung und nicht auf Demütigung drängen.
Deshalb verdienen die in der Zeitschrift Preglad veröffentlichten Gebote, die der an der Universität Lodz lehrende Andrzej de Lazari formulierte, Aufmerksamkeit – als Regeln der Vernunft nicht nur für Rußland und Polen, sondern im Kern auch für andere Länder Europas:
1. Bei Verhandlungen sind aktuelle wirtschaftliche Interessen von Geschichte und Ideologie zu trennen.
2. Rußland ist ein Bundesstaat, in dem zahlreiche Nationen leben, die noch nicht zu einer Bürgergesellschaft zusammengewachsen, sondern nolens volens bisher nur »Bevölkerung« sind.
3. Kommunismus und Rußland sind grundverschiedene Dinge.
4. Man sollte sich bewußt sein, daß 99,9 Prozent aller Russen der festen Überzeugung sind, daß sie Polen befreit haben. Eine andere Sache ist es, daß das, was dann folgte, im polnischen Bewußtsein als eine Form der Abhängigkeit angesehen wird.
5. Putin (ein Russe) ist nicht gleichzusetzen mit Stalin (einem Georgier) und Dzierżyński (einem Polen). Nach einem Putin könnte eine durch und durch nationalistische beziehungsweise pseudokommunistische Aktion à la Lepper, dem polnischen »Bauernführer«, folgen.
6. Die kommunistische Herrschaft kann für den Pakt zwischen Molotow und Ribbentrop wie auch für Katyn verantwortlich gemacht werden, keinesfalls jedoch ist Rußland dafür verantwortlich, keinesfalls waren es »die Russen«.
7. Es ist unbillig, von Russen zu verlangen, daß sie Polen für die Verbrechen zur Zeit des Kommunismus um Verzeihung bitten. Die Russen haben unter diesem System mehr zu leiden gehabt als die Polen.
8. Es sollte aufgehört werden, in Rußland einen Feind zu sehen, da Rußland Polen nicht bedroht.
9. Unsere Zusammenarbeit sollte auf Recht und Gesetz beruhen, nicht auf Sentimentalitäten. Rußland braucht von uns nicht belehrt zu werden. Arbeiten wir mit dem Rußland zusammen, das existiert.
10. Nehmen wir die Hände aus dem Nachtgeschirr und werden wir uns dessen bewußt, daß Demokratie keine »Diermokratie« ist. (Russisches Wortspiel, »Diermokratie« kann mit Scheißokratie übersetzt werden).