von Paul Lerner
Unter weniger orthodox denkenden Historikern kursierte in der DDR des Frühjahrs 1989 der Aphorismus »Das erste Mal 72 Tage, das zweite Mal 72 Jahre«. Mit den 72 Tagen wurde an die Wochen der Unschuld des aufständischen Pariser Proletariats von 1871 erinnert, mit den 72 Jahren waren die siebenkommazwei Dezennien »realexistierender Sozialismus« gemeint. Ein ursprünglich linkes Projekt stand kurz vorm Aus – nach langanhaltender Agonie.
Zum offiziellen Beerdigungstermin geriet der 3. Oktober im Jahr darauf. Der 3. Oktober 1990 war der Tag des Anschlusses an einen freundlichen Kapitalismus, dessen Rückbau auf das »Wesentliche«, auf die Profitheckerei um fast jeden Preis, allerdings bereits begonnen hatte. Denn der Massenarbeitslosigkeit durch profitgesteuerte Rationalisierung und dem primitiven Shareholder-value-Wirtschaften, also dem Verfressen der Investitionen für morgen und übermorgen, um die Gier des Augenblicks zu befriedigen, vermochte sich schon damals keine Kraft ernsthaft entgegenzustellen.
Fast alle – darunter viele Protagonisten eines rot-grünen Projekts – saßen zu dieser Zeit dem morgenschönen Märchen von der totalen Mitte und der freiheitsheckenden »Individualisierung« auf. Viele träumten – wenn auch zunehmend schlechter – davon, selbst nicht im »Unten« zu landen; eine Hoffnung, die sie so sehr paralysierte, daß durch sie erst der Marsch zur Zerschlagung der solidarstaatlichen Nachkriegsgesellschaft gelingen konnte.
Auch ohne den Zusammenbruch der DDR wäre es im Westen kalt geworden, möglicherweise sogar noch schneller: Die treuhänderische Ausplünderung des Ostens und die Schaffung von vielen hunderttausend Arbeitsplätzen auf Kosten der Ostwirtschaft verlängerten für den Westen ohne Zweifel die Galgenfrist. Hartz IV – trotz des Luxus’ von 14 Euro höheren Bezügen im Marshallplandeutschland – hat die lange beschworene »innere Einheit« aber nun doch noch angebahnt: Die Linkspartei könnte ihr politischer Ausdruck werden.
Einheit in der verordneten Armut dank einer Sozialdemokratie des vorauseilenden Gehorsams – womit sich der Kreis schließt: Das erste linke Projekt war auf den Tag genau 72 Jahre vor dem Anschluß von 1990 beerdigt worden: am 3. Oktober 1918, am Tag des Anschlusses der SPD ans wilhelminische Deutschland. Wenige Jahre waren für den Weg vom Sozialismus zur Regierung nötig gewesen; das Eintrittsgeld hatte die SPD in Blut entrichtet, mit dem Blut von Millionen Proletariern, deren nationalistische »Erweckung« sie 1914 mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten willig befördert hatte. Nicht von ungefähr, nach der »Hottentottenwahl« von 1907, hatte sich endgültig vor das »Jenseits« einer ausbeutungs- und unterdrückungsfreien Gesellschaft das »Diesseits« einer Regierungsbeteiligung geschoben; die Realos hatten gesiegt.
Während des Krieges war es dieser Parteiführung gelungen, das Vertrauen der in Deutschland herrschenden Kasten zu erwerben und dafür auch schon mal mit kleinen Gefälligkeiten belohnt zu werden: Die eleganteste Methode, aus den eigenen Reihen Kritiker an der Kriegsbefürwortung mundtot zu machen, war ein kleiner Tip bei der entsprechenden Reichswehrstelle. Fronteinsatz bedeutete oftmals eine Reise ohne Rückfahrkarte. Lange bevor General Groener und sein ihm folgsam vorausschreitender Vorgesetzter, der Sozialdemokrat Gustav Noske, »den radikalen Flügel der Arbeiterschaft von der sozialdemokratischen Führung durch einen Graben von Blut« (Willy Brandt) trennten, ließen SPD-Politiker Linke in den staatlich organisierten Tod schicken. Der Haß – Wer hat uns verraten …? – war nicht allein ein Produkt des Januars 1919.
Mit ihrem Weltkrieg hatten die wilhelminischen Eliten eine zwar nicht heile, aber für immer größere Teile der Bevölkerung erträgliche Gesellschaft ins Elend gestürzt und sich dann feige, so wie für deutsche Eliten nicht untypisch, davongemacht. Die SPD-Führung sah sich mit ihrem Eintritt in die Regierung Max von Baden am 3. Oktober 1918 und mit dem Sturz der Ludendorff-Diktatur am 26. Oktober an ihrem Ziel; Regierung statt Sozialismus lautete ihre »Revolution«. Als im November 1918 die Revolution als Werk einer Soldatenbewegung wirklich ausbrach, stellte sich die SPD-Führung an die Spitze dieser Bewegung, um ihr diese zu nehmen, und rettete den deutschen Militarismus – ohne den die Nazis nie hätten hochkommen können. 1923, nachdem die SPD-Führung die Konvulsionen der Nachkriegszeit im Blute erstickt hatte, durfte sie vorerst abdanken – sie wurde nicht mehr benötigt.
Aus alledem hatten SPD-Führer vor allem eins zu lernen: Wollen die herrschenden Eliten erneut die Gesellschaft verheeren, machen wir es eher selbst, als daß wir erneut die Verheerungen anderer ausbaden.
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