von Roland M. Richter, Kiew
Anfang Juli verabschiedete sich das ukrainische Parlament in die Sommerferien. Kaum hatten sich die Türen hinter den Volksvertretern geschlossen, kam es zum Eklat. Die Premierministerin verkündete vor laufenden Kameras, das Parlament bewege sich auf »antiukrainischem Kurs«, da es einen ganzen Packen von Gesetzen einfach nicht behandelt habe – also nicht dem Willen der Regierung folge. Diese Gesetze sind allerdings Voraussetzungen für die Aufnahme der Ukraine in die Welthandelsorganisation WTO. Offensichtlich mißfällt der (Links-Mitte)-Opposition im Parlament der Kurs der Unterordnung der ukrainischen Wirtschaft unter die globale Weltwirtschaft, die sowohl von der Regierung unter Führung von Julia Timoschenko als auch vom Präsidenten Juschtschenko zum erklärten Nahziel im Jahr 2005 erklärt wurde, dem dann der Eintritt in die EU zu folgen habe. Julia Timoschenko ging noch einen Schritt weiter und kündigte an, im Herbst eine regierungstreue Mehrheit in der obersten Volksvertretung schaffen zu wollen.
Was steckt hinter diesen Auseinandersetzungen? Zum einen wird deutlich, daß sich die in den Präsidentenwahlen unterlegenen Parteien und Gruppen zu einer Opposition formiert haben; zu ihr gehören neben Janukowitschs Partei der Regionen und der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei nunmehr auch die Kommunisten und die Volkspartei des Parlamentspräsidenten Litwin.
Zum anderen zeigen sich aber auch Risse im siegreichen Bündnis der »orangenen Revolution«. Solange es um die Neuaufteilung von Posten ging – 18000 Staatsangestellte wurden ausgetauscht, vom Gouverneur bis zum Schuldirektor –, war man sich noch einigermaßen einig. Doch in der Frage der Reprivatisierung scheiden sich, wie allerdings nicht anders zu erwarten gewesen, die Geister. Die Gruppe um Juschtschenkos Nasha Ukraina möchte lediglich dreißig Großunternehmen neuen Besitzern zuführen; diese Variante vertritt in der Regierung der Stellvertretende Premier und Vorsitzende der Partei der Industriellen und Unternehmer der Ukraine (PPPU), Anatoli Kinach.
Die Sozialisten hingegen, welche nunmehr die einflußreichen Posten des Innenministers und der Leitung der ukrainischen Treuhand innehaben, möchten dreihundert gewinnbringende frühere Staatsbetriebe wieder in Staatseigentum zurückführen. Ihre Begründung: Die Privatisierung sei unter Verletzung von Gesetzen erfolgt, eine erneute Verstaatlichung könne demzufolge entschädigungslos erfolgen.
Ganz soweit geht Premierministerin Timoschenko nicht, ihr würde reichen, wenn die Gewinne dieser Betriebe in die Staatskasse flössen. Wie bereits mehrfach vorgeführt, schwebt der Premierin eine Art »Handsteuerung« der Volkswirtschaft vor – an den Schalthebeln säße dann selbstverständlich sie und verfügte, wer mit wem zu welchen Bedingungen und Preisen arbeiten dürfe.
Allerdings sind ihr in den vergangenen sechs Monaten mehrere Versuche einer derartigen »Handsteuerung«, sei es bei den Fleischpreisen, sei es bei den Zuckerpreisen oder sei es bei den Benzinpreisen, gründlich mißlungen. Im Ergebnis ihrer Wirtschaftspolitik ist die Inflation auf vierzehn Prozent angestiegen und das Wachstum des Bruttosozialprodukts auf den niedrigsten Wert seit fünf Jahren gefallen. Im Juni betrug es nur noch ein Prozent. Selbst der neoliberale russische Berater des Präsidenten Juschtschenko, Nemzow, warnte vor einer nahen Wirtschaftskrise als Folge dieses Regierungskurses. Das alles hat verständlicherweise zu Rissen im Bündnis Juschtschenko/Timoschenko geführt, bis hin zu Juschtschenkos Ausbruch im Mai: Frau Timoschenko möge gefälligst zur Opposition überwechseln, wenn ihr seine Politik nicht gefalle. Doch die Politikerin steckte diese Kritik scheinbar ungerührt weg. Sie weiß, der Präsident ist auf sie und ihre Anhänger angewiesen.
Präsident Juschtschenko mißfällt insbesondere der Rückgang ausländischer Investitionen, eine Situation, die Julia Timoschenko nicht sonderlich zu beunruhigen scheint. Denn sie steht für die nationale Schicht der neuen Eigentümer, welche ausländische Investitionen lediglich als Quelle von Krediten ansehen, deren Rückzahlung es nach Möglichkeit zu vermeiden gilt.
Auch in den Fragen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen den Auffassungen der Sieger der Präsidentenwahlen. Noch immer werden Unternehmen gewaltsam besetzt, um neue Eigentumsverhältnisse durchzusetzen. Frühere Betriebsleitungen werden ausgesperrt, bewaffnete Wachleute verwehren Gerichtsbeamten den Zutritt.
Das Vertrauen in die Gerichte ist auf einen Tiefpunkt gesunken. Zunehmend greifen Initiativgruppen unterschiedlichster Couleur zu Straßenbesetzungen und Besetzungen von Verwaltungseinrichtungen, um ihre Ziele durchzusetzen. Daneben ist die Vaterlandspartei von Julia Timoschenko dabei, die staatliche Verwaltung zu durchdringen. In Regierungsämtern bis hinauf zum Ministerrat wurden Parteizellen gegründet, große Teile von Belegschaften in staatlichen Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäusern traten kollektiv den neuen Regierungsparteien bei.
Im Vorfeld der Parlamentswahlen im März 2006 ist schon jetzt der Wahlkampf offen ausgebrochen. Keiner der neuen Hauptakteure in der ukrainischen Politik hat bislang seine Ziele erreicht. Und die Opposition beginnt sich nach ihrer Niederlage zu erholen. Die einzelnen Gruppen des regierenden Bündnisses graben an den Startlöchern, um 2006 die Vorherrschaft zu gewinnen.
Dabei kann Julia Timoschenko nicht auf Juschtschenkos Popularität verzichten, ebensowenig wie Juschtschenko auf Timoschenkos durchorganisierte »Revolutionstruppen«. Beide wiederum benötigen die Finanzen des Schokoladenkönigs Poroschenko, der als Chef des Nationalen Sicherheitsrates im Hintergrund die Fäden zieht. Ein Punkt ihrer Wahlstrategie ist die in Angriff genommene Territorial- und Verwaltungsreform, die unter anderem mit einem Neuzuschnitt der Wahlkreise den Regierungsparteien zu größeren Chancen verhelfen soll.
Allerdings stößt dieses Bemühen, mit dem an traditionellen lokalen Interessen und Identitäten gerührt wird, auf energischsten Widerstand in der Bevölkerung. So wurde in der zweiten Juliwoche der Stellvertretende Premier Bezsmertniy, der für die geplante lokale Neugliederung verantwortlich zeichnet, durch eine empörte Versammlung im Wahlkreis gezwungen, öffentlich seinen Rücktritt beim Präsidenten einzureichen – den dieser erwartungsgemäß nicht annahm.
Der Ausgang all dieser Konflikte ist momentan nicht abzusehen. Nach dem emotionalen Aufschwung während der Präsidentschaftswahlen macht sich in der Bevölkerung politische Apathie breit. Wer daraus Nutzen zieht, ist nicht vorherzusagen, zumal es zunehmend schwieriger wird, Informationen in der Ukraine auszuwerten. Alle Medien sind bei Strafe des Lizenzentzugs angehalten, überwiegend in ukrainischer Sprache zu senden, deren ausreichende Kenntnis im Ausland wohl auf Minderheiten beschränkt ist.
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