Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 1. August 2005, Heft 16

Wahllos

von Martin Nicklaus

Deutlicher als je in der Geschichte steht die Menschheit an einem Kreuzweg. Der eine Weg führt in Verzweiflung und äußerste Hoffnungslosigkeit, der andere in die totale Vernichtung. Beten wir um die Weisheit, die richtige Wahl zu treffen.« So sieht bei Woody Allen eine Richtungswahl aus. Wenn hingegen Gerhard Schröder darüber fabuliert, redet er Stuß. Von unterschiedlichen politischen Richtungen keine Spur. Längst ist in Deutschland das entstanden, was als erster Gore Vidal in seiner Heimat USA beobachtete: eine Partei mit zwei rechten Flügeln.
Was geht in Wählern vor, die eine Politik zu Recht als untauglich und asozial ablehnen, dann jedoch die Partei wählen wollen, die unverhohlen ankündigt, unter ihrer Regie würde alles noch prekärer? Spiegelt sich da eine masochistische Sehnsucht, oder wirkt Münteferings Schizophrenie ansteckend? Erstmals stellen sich Gruppierungen zur Wahl, die nicht nur Zumutungen versprechen, sondern auch verschweigen, wozu die gut sein sollen. Bisher wurde Volk – in jedem Gesellschaftssystem – mit der Verheißung einer glücklicheren Zukunft, entsprechendes Wohlverhalten selbstverständlich vorausgesetzt, geködert. Mal befand sich das Paradies im Himmel, mal hieß es Kommunismus, der aus einer kommenden Zeit heraus seinen Magnetismus entfaltet. Zuletzt lautete die Parole Wohlfahrtsstaat.
Nun stehen mit CDU und SPD zwei große Kräfte zur (Nicht)Wahl, die nicht einmal mehr heucheln, das Gute zu wollen. Für Karl Kraus wäre die Sache einst klar gewesen, denn er weigerte sich, zwischen zwei Übeln das kleinere zu wählen. Unsere beiden Übel, geeint in der Lust an der Zerstörung, erhalten derzeit über siebzig Prozent Wählerstimmen. Keine Lüge, keine Korruption, keine Unseriosität oder Inkompetenz können groß genug sein, um deutsche Stimmberechtigte abzuschrecken. Obwohl in der Bevölkerung durchaus emanzipatorische Tendenzen auftreten. Beispielsweise sinkt die Auflage von Bild Jahr für Jahr. Allerdings gibt es derzeit immer noch 3,6 Millionen Leser; die Auflage von Bild entspricht damit ungefähr der von taz, Welt, Financial Times Deutschland, FAZ, Handelsblatt, SZ, Spiegel, Focus und Zeit zusammengenommen.
Aus der Existenz von Bild-Lesern läßt sich eines der entschiedensten Argumente gegen jegliche Volksentscheide ableiten. Oswald Spengler beschrieb 1918 den Untergang des Abendlandes so: »Die Demokratie hat das Buch aus dem Geistesleben der Volksmassen vollständig durch die Zeitung verdrängt. Die Bücherwelt mit ihrem Reichtum an Gesichtspunkten, die das Denken zur Auswahl und Kritik nötigte, ist nur noch für enge Kreise wirklich ein Besitz. Das Volk liest die eine, seine Zeitung, die in Millionen Exemplaren täglich in alle Häuser dringt, die Geister von frühem Morgen an in ihren Bann zieht …«
Spengler hatte ohnehin früh erkannt: »Daß ein Wahlrecht annähernd leistet, was sich der Idealist dabei denkt, setzt voraus, das es keine organisierte Führerschaft gibt, die in ihrem Interesse und im Maße des verfügbaren Geldes auf die Wähler einwirkt.« Heute heißen diese Einwirkungen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft oder Wirtschaftsrat, die kritischen Journalismus und Wissenschaftlichkeit vorgaukeln, aber lediglich Propaganda betreiben, mit der sie den Sozialstaat bekämpfen, um die Zivilgesellschaft durch ein Zusammenleben abzulösen, das Recht des Stärkeren beherrscht wird.
Aus Feigheit und Opportunismus wird diese Agitation von allen etablierten Parteien übernommen. Davon ablenken sollen Kanzlerspiele. Die literarische Vorlage dafür stammt übrigens von Uderzo und Goscinny, Großer Asterixband XII. Wann immer die Piraten auf Asterix und Obelix stoßen, erleben sie bittere Niederlagen. Bis der Piratenkapitän den rettenden Einfall hat und die Initiative ergreift. Kaum tauchen die beiden Gallier am Horizont wieder auf, versenkt er sein Schiff.
Wie könnte eine gesellschaftliche Alternative aussehen? Sollen uns Eliten führen, so wie es sich Plato dachte? Dagegen argumentierte einst Karl Popper in seiner Schrift Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Er sah einen direkten Weg von Plato in die Konzentrationslager der Nazis, die sich schließlich auch als Elite verstanden hatten.
Eine überraschende Überlegung stammt von einem anderen Großraumdenker. Nachdem er ausgiebig das Universum betrachtet hatte, richtete Albert Einstein seinen Blick zurück auf die Erde und sah erhebliche Übel. 1949 erkannte er eine Oligarchie des Privatkapitals, von dem die Parteien finanziell abhängen. »Dies bedingt, daß die Volksvertreter die Interessen der nichtbegüterten Volksteile nicht in genügendem Maße vertreten.«
Nach Aufzählung weiterer Mißstände verortete er deren Ursache in den kapitalistischen Wirtschaftsverhältnissen. Zur großen Kelle greifend, kam er zu dem Schluß: »Nach meiner Überzeugung gibt es nur einen Weg zur Beseitigung dieser schweren Übel, nämlich die Etablierung einer sozialistischen Wirtschaft, vereint mit einer auf soziale Ziele eingestellten Erziehung.« Relativ interessant, oder? Nur, wie organisiert man den Sozialismus? Herr Einstein, bitte melden.