Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 29. August 2005, Heft 18

Meißen am Meer

von Wolfgang Sabath

Das Baltikum zerfällt in drei Teile. Wir fangen oben an. Der Grenzer, dem wir in Tallinn die Papiere vorzuweisen hatten, trug eine Uniform, die der des braven Soldaten Schwejk nicht unähnlich war – insbesondere die Mütze. Die anderen Uniformen, die wir später sahen – viele waren es ja nicht – wirkten dagegen ausgesprochen elegant. Aber vielleicht waren deren Träger nur uniformbewußter als der Hafengrenzer.
Kleine Männer und kleine Länder haben manches gemeinsam: Sie recken sich gerne und mögen es hochhackig. Und sie sind empfindlich. Mal mehr, mal weniger. Und darum wird ihnen manches nachgesehen. Das kann mitunter sehr komfortabel sein. In so einer komfortablen Situation befinden sich die Baltikumländer: Was immer es auch sei an Schlechtem – es waren »die Russen«. Als habe es nie Regierungen der Estnischen, der Lettischen oder der Litauischen SSR, als habe es nie auch einheimisches Personal gegeben. Die Zeit davor wird ohnehin gerne beschwiegen. Und Resteuropa schweigt mit. Nur wenn sie es zu toll treiben, die Baltikümer, und nur, wenn sie wieder mal die Waffen-SS-Veteranen demonstrieren lassen oder ihnen ein Denkmal erlauben, grummelt es ein bißchen aus Richtung Westen. Im Reiseführer steht, in den Baltenländern sei man stolz auf Regierung und Politiker, und es zieme sich nicht für Auswärtige, Witze über sie zu machen. Ein Schelm, wer dabei DDR denkt, die vollendete Hochhackigkeit auf deutschem Boden …
Das vorab gebuchte Hotel liegt in einem Neubaugebiet. Viel Fläche, viel Brache und viel Rasen zwischen den Häusern, viele eingezäunte bewachte Parkplätze, Omas auf Bänken, hier ein Kiosk und dort einer, es sieht alles irgendwie sehr nach Moskau aus. Doch weit und breit kein Hotel, das Mahtra heißt. Was sich im Internet wie ein frisch saniertes Hochhaus ausgenommen hatte, in dem nun – mit uns zieht die neue Zeit – ein Hotel entstanden war, stellte sich schließlich als hotelähnliche Unterkunft im Souterrain heraus. Die Fenster vergittert. Hier werden einst Hausmeister oder Handwerker ihre Räume gehabt haben. Es ist 19 Uhr. Die Frau am Tresen läßt von ihrem Abakus und bescheidet uns russisch- und sowjetisch-unnahbar, wir hätten bis 15 Uhr angekommen sein müssen. Zu der Zeit schwammen wir noch auf dem Finnischen Meerbusen. Wir wedeln mit unserer zu Hause ausgedruckten E-Mail-Bestätigung, besannen uns auf unsere russischen Uraltsprachreste aus allerfernster DDR-Vorzeit (Nina, Nina, tam Kartina, eto traktor i motor …) und brachten den Fragestummel zustande (versehen mit Nachdruck und herrischer Geste): »Komnata – ili nje komnata …?«
Wir durften zwischen zweien wählen – ein Blick ins Internet, zwei ins Leben. DSF-gestählt, wie wir sind, würden wir auch das überstehen. Die Zerbera bedeutete uns, hier sei Vorkasse angesagt. Da beschlossen wir, wieder nicht zu begreifen.

*

In den Freiluftgaststätten auf dem Altstadtmarkt ist Betrieb. Die ersten Finnenfähren sind eingetroffen, junge Serviererinnen schleppen Bier. Noch grölen die Gäste nicht. Es wird kolportiert, daß die Esten ihre nördlichen Brüder mit Fassung ertrügen. Sie bringen die Umsätze. Denn daß Einheimische hier sitzen, erscheint mir angesichts der Spanne zwischen hiesigen Einkommen und Preisen schier unmöglich; es sei denn, es handelt sich um Neue Esten oder Neue Russen. Wenn die Finnen ankommen, sagen die Talliner: Die Elche kommen. Merkwürdigerweise aber benutzen sie dafür eine Vokabel, die eigentlich für Rentiere steht.
Wir sitzen in einem Bus, der jene Tallinner Sehenswürdigkeiten abfährt, die sich außerhalb der Altstadt befinden; die Altstadt wird zu Fuß eingenommen. Der Bus fährt raus ans Meer, nach Pirita, Stichwort: olympisches Segelrevier. Unterwegs hält er an jener Freilichtbühne, wo seit Jahrzehnten die Sängerfeste stattfinden. Identitätsstiftend, immer dabei: nationaler Bibber. Die Esten haben – Legenden sind wichtig, für Kleine allemal, so jedenfalls hören sich die neuen Geschichten an – »die Russen« quasi weggesungen, es soll nach estnischem Verständnis eine »Singende Revolution« gewesen sein. Darunter machen sie es nicht. Warum sollten sie auch? Angesichts der Verbringung von zehn Prozent der estnischen Bevölkerung in den Gulag sollte Relativierern ein jegliches »Aber« im Halse steckenbleiben.
Am Wasser steht ein hohes Denkmal für die Matrosen des russischen Schiffs Rusalka, das 1863 (zur Zarenzeit) hier irgendwo in der Ostsee sank. »Was kann ich dafür«, sagte ein sich heute sehr ungelitten fühlender junger Russe, Heimatstadt: Tallinn, »daß Peter der Große vor dreihundert Jahren Estland eroberte?«
Auf dem Markt steht auch eine Freilichtbühne. Dort wird an jedem Tag gesungen und gespielt. Eben verabschiedet sich dort – mit viel Beifall bedacht – eine russischbunt staffierte Folkloregruppe: »Wir kommen wieder«, sagt die stramme Russin. Es bleibt ungewiß, ob morgen, übermorgen, nächste Woche, nächsten Monat. Es stimmt mich froh, diese Russen gesehen zu haben. Es geht doch. Auch die Esten werden irgendwann gelernt haben müssen, daß man nicht gegen dreißig Prozent der Bevölkerung regieren kann.
Sonntag. Die orthodoxen Russen in Tallinn feiern ihr Pfingsten. Die Kathedrale auf dem Domberg ist gedrängt voll. Touristen und Gottesdienstbesucher halten sich die Waage. Die Fremden, vorwiegend Westeuropäer und Amerikaner, stören ungeniert mit ihrer Fotografiererei und trotz mehrerer Verbotsschilder die Feier. Die Verbotsschilder bestehen aus Symbolen, die jeder verstehen könnte. Gelegentlich werden Fotografen von Kirchenbediensteten zur Ordnung gerufen.
Augenfällig der Kontrast zwischen dem Prunk der Kathedrale, dem Prunk der Gewänder des Patriarchen und seiner ihm zur Hand gehenden An- und Auskleider sowie der Weihrauchschwenker und den armseligen, ärmlich gekleideten, verhärmten Kopftuchfrauen und den Männern im zerknitterten Sonntagsanzug, jungen wie alten. Russen, von allem und allen verlassen, in einer Art Niemandsland lebend, »Okkupanten« bis zum Jüngsten Gericht.
Dem Patriarchen wird beim zeremoniellen An- und Umkleiden und dem Wechsel von Teilen seines goldstrotzenden Ornates geholfen, von blassen jungen Männern. Einer schiebt ihm hinterrücks dezent einen Hocker in die Kniekehle. Ich bin mir nicht sicher, ob alle diese Handreichungen nur rituellen Vorschriften geschuldet sind. Der Patriarch nämlich ist alt, uralt. Es riecht sehr nach Weihrauch. Und es wird wunderbar gesungen. Vom Tonband. Wir kaufen ein braunes dünnes Kerzlein und lassen etliche jener Zettel mitgehen, auf denen Gläubige Danksagungen schreiben oder Fürbitten leisten können. Souvenir, Souvenir. Draußen atmen wir durch. Die Sonne scheint. Vom Domberg gibt es herrliche Aussichten hinunter auf die bunten Dächer der Hansestadt, auf Kontore, Speicher, Kirchen. Meißen am Meer. Oder meinethalben auch Celle. Nicht am Meer. Nein, gewohnt wird auch hierzulande in solchen Häusern immer weniger, sie werden auch hier von Rechtsanwälten bevorzugt. An einem schmucken alten Haus sehe ich ein eher unauffälliges Schild: Konrad-Adenauer-Stiftung. Es gibt wahrlich schöne Arbeitsplätze auf der Welt und in Tallinn erst recht. Für manchen lohnte es sich vielleicht sogar, in die CDU einzutreten.