Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 15. August 2005, Heft 17

Mein Klassenbuch IV

von Eckhard Mieder

2002 nahm Eckhard Mieder sich vor, bis zur nächsten Bundestagswahl ein »Klassenbuch« zu führen. Seine Notizen über das, was die politische Klasse nach den Bundestagswahlen veranstaltete, sollten ihm als Entscheidungshilfe bei den nächsten dienen.

Montag, 15. Dezember 2002. Es stimmt sofort verdrießlich, morgens Zeitungen zu lesen: Der Pinocchio namens Merz spucke dem weiblichen CDU-Bond Merkel in die Macht-Suppe. Ringsum stöhnten die Christsozialen, daß man ja Verständnis für Merz habe, Frust müsse raus. Aber der Zeitpunkt, warum man gerade jetzt Zerrissenheit zeige, wo es doch um Geschlossenheit gehe: und zwar im Wahlkampf in Hessen und Niedersachsen? Wiederum zeige sich Herr Koch, das süffisanteste Gesicht Deutschlands, angetan von dem Klein-Eklat des larmoyanten Rachefeldzügleins Merzens: Denn der lenke von seinem unglückseligen Vergleich aus der tiefschichtig vorhandenen Nazi-Sympathie ab. Wiederum fragten sich die Christsozialen, was das alles soll. Da doch alles glänzend stehe. Die FDP hat ihren Möllemann, die SPD hat ihre Kakophonie, und die Bündnis-90-Grünen haben ihre unbeholfene Doppelspitze Beer-Bütikofer. Nichts hülfe einer Partei mehr als Geschlossenheit – aber da eine Partei nun mal aus Menschen besteht, gibt es keine geschlossen auftretende Partei. Was ich mir wünsche, sind: vier Wochen mediales Verstummen. Vier Wochen lang dürfte kein Politiker, nicht einer, eine Bühne für seine Meinungen bekommen. In diesen vier Wochen würde die Selbstmordrate unter Journalisten steigen, es müßten neue Kannibalen gefunden werden, und gut machte sich ein Hochwasser für Hamburg oder Algier. Ich werde mein KLASSENBUCH vermutlich nicht durchhalten: Es macht depressiv, tagtäglich in die Demokratie hineinzuhorchen. Ich aber möchte ein glücklicher Mensch sein.

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Mittwoch, 18. Dezember 2002. Kurz nach Mitternacht. Was ist mit Frau Merz? Wie erträgt sie ihren Mann am Abendbrottisch? Friederich hat meines Wissens Kinder und eine Frau. Was sagt sie zu der gekränkten Leberwurst, wenn die – die Kinder liegen im Bett – mit ihrer Gattin über die bescheuerte Merkel aus dem Osten redet? Folgt die Gute in allem ihrem Mann? Oder sagt sie: »Du, Fritz, sei nicht so. Sei doch nicht böse, verärgert und neidisch. Denk doch bitte daran, auch die Angela ist eine Frau.« Oder schaut sie ihn nur stumm und ergeben an? Mich interessiert, was die Frauen von Politikern mit ihren Gatten (oder die Männer von Politikerinnen mit ihren Gattinnen) quatschen. Abends beim Wein. Nachts im Bett. Morgens beim Frühstück. Oder geht so einer wie Merz, unberaten von seiner Frau und unbesprochen mit seinen Lieben, einfach los und gibt kalkulierte Interviews, die, seinen fehlenden Realitätssinn verratend, ihn zwar in die Medien bringen. Aber unterm Strich gilt er allen als nachtretender Schlecht-Verlierer. Merz hat Glück: Gleich ist Weihnachten, und seine Attacke wird im Rotwein zur Gans absaufen, wird zwischen Frühstück und Kaninchenbraten zur Rosine schrumpfen.

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Es beginnt nach Wahlkampf zu stinken. Es ist zu spüren, wie der Medien-Treck in Richtung Februar 2003 einschwenkt; aus allen Auspuffen mäfft es nach Taktik. Jedes Treffen, jede Äußerung wird betrachtet: Wie fügt es sich zu welcher Konstellation mit welchen Absichten zu den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen. Keine Zeitung, die nicht über das Schulter-an-Schulter-Auftreten Schröders mit Gabriel dichtet. Niemand, der nicht fragte, ob die Extravaganz Merzens nicht doch zu einem ungünstigen Zeitpunkt unter die Lampe der Öffentlichkeit (und hinter den Vorhang des Parteiengezänks) geriet. Die CSU überdenkt ihre europapolitische Haltung, und FDP-Politiker mahnen, daß Möllemann endlich in Ruhe gelassen werden solle. Übergang zur Tagesordnung ist angesagt. Umfragen besagen, daß die SPD in der Gunst der Wähler noch immer weiter hinter der CDU zurückliege – aber der Abstand habe sich stabilisiert beziehungsweise um eine Geringes verkürzt. Für meine Sammlung von Paarfotos in Zeitungen: Schröder hält Gabriel mit seinem linken Arm umhalst; des Kanzlers Lachen ist zahnig, die Augen geschlossen, die Lippen auseinandergerissen; Gabriel neben ihm, mit einer mittleren Zahnlücke, lacht verhaltener; beider Männer Jacketts beulen sich über der Hemdenbrust, die Krawatten fest verbündet; über den Köpfen der beiden Sozialdemokraten steht als Wort aus der Wahlveranstaltungslosung in Oldenburg Wir. In dem Artikel darunter heißt es, daß das »Tal der Tränen« überstanden sei. Oder ist die »Hochtränenflut« gemeint? Irgendeinem PR-Menschen der SPD müßte es doch gelingen, zwischen dem »Tal der Tränen« und der »Hochwasserflut vom Herbst« eine knackige Wortbrücke zu schlagen?

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Wo eine Krise ist, muß es Leidende geben. Wo es Leidende gibt, muß es Protestierende geben. Wenn nicht die Leidenden sich organisieren können, muß es Leute geben, die das Leid für ihren Protest (oder den der Leidenden) stellvertretend strukturieren. Also müßte es, wo es Krise gibt, Proteste geben. Gibt es etwa keine? Jeder Interessenverband geht für seine Mitglieder »auf die Barrikade«. Jede Berufsgruppenverwaltung steigt für ihre Klientel »auf die Bremse«. Aber es fügt sich nicht zur Massendemonstration. Die Interessen sind zu verschieden, und alle eint: Jeder hat zu viel zu verlieren. Denn Protest hat, bei aller organisierter Spießigkeit, eine Komponente des Risikos: Der Protestierer kann Leben, Freunde, Kollegen, Arbeit, seine Familie verlieren. Das gilt auch in Zeiten des wohltemperierten Widerstandes.