von André Herzberg
Ich war 1976 im Norden der DDR stationiert und trug die Uniform der NVA. Ich schlich mich zum Fernseher in den Klubraum, der verlassen stand, weil außer mir sich niemand für die Nachrichten interessierte. Der Hauptfeind Biermann wurde unter »Beifallsbekundungen« der Bevölkerung ausgebürgert – der Sänger, der Vorbild meiner größeren Geschwister war, den auch ich bewunderte, weil auch ich Sänger werden wollte.
Im August muß dann wohl auch von einem anderen Feind die Rede gewesen sein, einem Verrückten, wie man sagte, der sich in der Stadt Zeitz mit Benzin übergossen und angezündet hatte. Doch meine Wahrnehmung damals war eingeschränkt, nicht nur durch die einseitigen Medien, sondern auch durch meine Erziehung, die mir drastischen Antikommunismus als feindlich erscheinen ließ. Damals wollte ich ein bißchen verbessern, aber nicht alles in Frage stellen. Ein Pfarrer, der die Regierung und die russischen Besatzer mit Jesus bekämpfen wollte, der sich sogar für seine Meinung umbringt, wäre mir feindlich und verrückt vorgekommen.
Vor ein paar Wochen war ich schon mit dem Kajak die Saale heruntergefahren, dann mit dem Fahrrad von Burg zu Burg, nun bin ich mit dem Auto unterwegs. Nach Zeitz, Stadt im Burgenlandkreis. Im Roman eines Schicksallosen von Imre Kertesz ist von seinen Erlebnissen als KZ-Häftling in Zeitz die Rede, ein Buch, was niemand drucken wollte, als es fertig war. Ich frage bei der Stadtinformation nach einem KZ. Bereitwillig antwortet die Dame, ja, hier in diesem Gebäude und auf dem Schloß, aber ich schüttele mit dem Kopf, dann schreibt sie mir die Adresse eines älteren Herrn auf.
Die Angaben über den Pfarrer hatte ich aus dem Internet.
Das Dorf Rippicha liegt an der Straße nach Gera, südlich. Der Kirchturm ist mein sichtbares Ziel. Ich gehe auf den umliegenden Friedhof, spreche die Namen der Gräber leise auf den Lippen, aber ich kann es nicht finden. Draußen wird gebaut. Als ich mich dem Besitzer des neuen Eigenheims nähere, sagt der: Nicht auf den frischen Kies, keene Ahnung, wer hier allet rumliegt. Kein Schild, kein Hinweis, aber am Ende zwei von mir vorher unbemerkte Grabstellen, dort finde ich auch Oskar Brüsewitz, den Selbstmörder.
Rehmsdorf liegt an der Straße nach Altenburg, südöstlich von Zeitz. Kein Schild, kein Hinweis, aber ich habe ja die Adresse. Die Tür öffnet sich auf mein Klingeln. Ich suche das KZ. Wozu denn ein Hinweis, fragt der Mann in Turnhose und Hörgerät mißtrauisch?
Dann zieht er sich was über, und wir fahren zum stillgelegten Bahnhof des Ortes. Hier gibt es einen Gedenkstein aus DDR-Zeiten. Inzwischen sprudelt der Mann wie ein Wasserfall, während wir über das Gelände spazieren. Das sind die KZ-Baracken, sagt er auf meine Frage, ich sehe auf das Schild eines Baubetriebs, dahinter auf bunte Eigenheime.
Die Baracken wurden damals von der Organisation Todt gebaut. In die Fundamente kriegst du keinen Nagel rein, so stabil ist das. Er habe zehn Jahre da vorn gewohnt, nach dem Krieg, in dem Haus der Wachmannschaft. Kertesz war mal (wieder) hier, er sei ein Jahr jünger als er, sagt der Mann und verkauft mir am Ende unseres Gesprächs sein Buch »Vernichtung« für vier Euro.
Später sehe ich mir das Foto darin an, das ihn mit dem Nobelpreisträger zeigt. Er hat schon zu DDR-Zeiten penibel alles über das Lager zusammengetragen und 1997 das Buch im Selbstverlag herausgegeben. Bald soll eine Fortsetzung erscheinen.
Zurück in Zeitz, finde ich vor der Michaeliskirche, dem Ort der Selbstverbrennung, eine Säule, Oskar Brüsewitz mit Geburts- und Sterbedatum. Dreißig Kilometer vor Zeitz, neben Weißenfels, liegt das Dörfchen Röcken. Hier gibt es Hinweis und Schild zu dem Geburts- und Sterbeort von Friedrich Nietzsche, dessen erstes Buch in vierhundert Exemplaren erschien. Er wurde 1900 ohne den Segen der Kirche begraben. In der Schule hatten wir im Philosophieunterricht Marx, Nietzsche galt als Wegbereiter der Nazis, und ich kannte nur seinen Spruch: Wenn du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht!
Die Hüterin des winzigen Museums sitzt mit mir nach meinem Rundgang im Garten bei einer Zigarette. Er hatte nur zehnmal Sex in seinem Leben, da mußte er ja verrückt werden, sagt sie. Die Grabplatte sei von Hitlers Schwester bezahlt worden, aber es sei nicht sicher, ob er wirklich drunter liegt. Vielleicht liegt er auch ein paar Meter weiter im kleinen Garten.
Im Stadtpark von Weißenfels ist das Grab von Novalis, gestorben 1801, des romantischen Dichters, der aus der preußischen Familie Hardenberg stammte und Angestellter im Salzbergwerk war, im Burgenlandkreis. In Weißenfels gibt es auch ein Museum, das Haus, in dem Novalis wohnte.
Meine Freundin, die schon lange in Weißenfels lebt und mir alles zeigt, aber von Brüsewitz noch nie etwas gehört hatte, fragt: Wo ist denn der Schusterjunge geblieben? Die Figur habe früher in der Mitte des Stadtparks gestanden, wegen der Schuhindustrie in Weißenfels. Die gibt es nun nicht mehr. Oskar Brüsewitz war, bevor er Pfarrer in Rippicha wurde, Schuster hier. In einer entfernteren Ecke des Parks finden wir den Schusterjungen.
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