Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII), Berlin, 18. Juli 2005, Heft 15

Selber denken

von Ove Lieh

Vor einiger Zeit hatte der Bundespräsident, der sich gerne als Präsident aller Deutschen darstellt – obwohl er gar nicht von allen Deutschen ausgesucht wird und man sich also auch gar nicht dagegen wehren kann, von ihm präsidiert zu werden –, eine gewaltige Diskussion losgetreten mit der Behauptung, die Lebensverhältnisse in Ost und West sollten, könnten und müßten gar nicht angeglichen werden. Schließlich gebe es ja auch im Westen Unterschiede zwischen den Regionen. Was es im Westen schon immer gab, muß natürlich okay sein.
Nett wäre aber, wenn der Staat, sich dann auch aus unseren Lebensverhältnissen raushalten und nicht Ungleichheit anordnen würde. Bei Tarifen im öffentlichen Dienst zum Beispiel, oder bei den Preisen in meiner Branche: Zahntechnik. Weitere Beispiele kennt jeder! Per Dekret ist unsere Arbeit (im Osten), die mindestens die gleiche Produktivität hat wie die im Westen, zwanzig Prozent weniger wert als jene. Die Auswirkungen auf unsere Lebensverhältnisse als Angestellte kann man ahnen. Diese ohnehin niedrigen Preise senkte man kürzlich noch einmal um fünf Prozent (allerdings in West und Ost, es geht doch!), weil man die Mehrwertsteuer auf sechzehn Prozent erhöhen wollte, die Belastung aber nicht an die Patienten und ihre Kassen weiterzugeben gewillt war, sondern lieber an uns. Der Staat nimmt eben nicht nur, er gibt auch. Die Mehrwertsteuererhöhung kam nicht, die Preissenkung aber blieb. Nicht ganz, inzwischen stiegen die Preise doch einmal um 0,5 Prozent!
Was daran normal sein soll, oder im Westen schon immer so war, kann sicher auch Herr Köhler nicht erklären. Vielleicht sollte er sich auch mal mehr Gedanken über die Lebensverhältnisse »ganz unten« und ihren Abstand zu denen »ganz oben« machen. Könnte man die nicht wieder etwas annähern, wenn es bei den anderen schon nicht geht? Ach so, die waren im Westen auch schon immer sehr unterschiedlich!? Warum trägt nun aber der Staat kräftig dazu bei, sie immer unterschiedlicher werden zu lassen? Das war nämlich im Westen auch nicht immer so.
Meint jedenfalls Albrecht Müller in seinem Buch Die Reformlüge. Wen die Uniformität und Substanzlosigkeit der öffentlichen »Diskussionen« anödet, wer Anregungen zum alternativen Denken sucht, wer schon lange vermutet, daß uns auf allen Gebieten etwas vorgemacht wird, wer also selber denken will, der wird viel Freude mit diesem Buch haben.
Und wenn es in Ost und West gleichermaßen intensiv gelesen und diskutiert würde, wäre das schon mal eine sehr begrüßenswerte und dazu noch leicht realisierbare Angleichung der Lebensverhältnisse.

Albrecht Müller: Die Reformlüge. 40 Denkfehler, Mythen und Legenden, mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren, Verlag Droemer-Knaur München. Die Taschenbuchausgabe erscheint im August, 8,95 Euro